Wahlanfechtung: Erstaunliche Parallelen zu 1927

(c) APA/HANS KLAUS TECHT
  • Drucken

Auch bei jener Wahl, nach deren Anfechtung der VfGH seine strenge Judikatur entwickelt hat, hatten Hilfskräfte statt der Wahlbehörde ausgezählt.


Wahlanfechtungen vor dem VfGH kommen – im Vergleich etwa zu Bescheid-, Verordnungs- oder Gesetzesprüfungsverfahren – nur selten vor, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass der VfGH im aktuellen Verfahren zur Prüfung der Bundespräsidentenwahl 2016 zum Teil auch auf sehr alte Vorentscheidungen zurückgriff. So insbesondere auf das Erkenntnis vom 9. November 1927, Sammlung Nr. 888, das in mehrfacher Hinsicht auffallende Ähnlichkeiten mit dem aktuellen Erkenntnis aufweist.

Angespannte Lage durch Justizpalast-Brand

Gegenstand war die Wiener Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahl vom 24. April 1927, die in einer politisch sehr aufgeheizten Stimmung stattgefunden hatte (zwischen Wahl und Erkenntnis lag der Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927!). Im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing lagen die Sozialdemokraten mit 26.299 Stimmen und die bürgerliche „Einheitsliste“ mit 26.263 Stimmen fast gleichauf. Die Einheitsliste focht die Währinger Wahl wegen einer Reihe von Unregelmäßigkeiten an und behauptete eine Verkürzung um 260 Stimmen. Dies hätte zwar keine Mandatsverschiebung bedeutet; bei Mandatsgleichstand jedoch gab die Zahl der Stimmen den Ausschlag, wem der Posten des Bezirksvorstehers gebühre – und insofern konnten diese Unregelmäßigkeiten tatsächlich relevant für das Ergebnis sein.

Kelsen veranlasste Beweisverfahren

Hans Kelsen, 1919–1930 Richter am Verfassungsgerichtshof, war in diesem Verfahren als Referent tätig, d.h. er hatte das Verfahren vorzubereiten. Es veranlasste ein umfangreiches Beweisverfahren; u.a. wurden Zeugen befragt und anhand von Meldezetteln geprüft, ob bestimmte Personen zur fraglichen Zeit überhaupt im 18. Bezirk wohnhaft waren. Es kam heraus, dass Wahlakten nicht versiegelt worden waren, dass Auszählungen nur durch „Hilfskräfte“ statt durch die Wahlbehörde vorgenommen worden waren, und vieles mehr. Vor allem aber war das ursprünglich festgestellte Ergebnis später von verschiedenen Leuten mehrmals „korrigiert“ worden. Ob es sich hiebei um Wahlmanipulation oder schlichte Irrtümer handelte, konnte der Gerichtshof nicht mehr feststellen.

„Eines der Fundamente des Staates“

Dennoch hob er die Wahl auf, insoweit sie auf die Wahl des Bezirksobmanns von Einfluss war, und begründete dies wie folgt: „Um eine angefochtene Wahl aufzuheben, muß nicht der Nachweis erbracht werden, daß die vom Verfassungsgerichtshof als erwiesen angenommenen Rechtswidrigkeiten tatsächlich auf das Wahlergebnis von Einfluß waren, sondern es genügt, daß die erwiesene Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluß sein konnte, was zu beurteilen im Ermessen des Verfassungsgerichtshofes steht.“ Der Verfassungsgerichtshof begründete aber auch, weshalb er derart streng war: Es geschehe dies „im Interesse der Gesetzmäßigkeit der Wahlen, die in einer demokratischen Republik, in der alle maßgebenden Staatsorgane durch Wahl berufen werden, eines der Fundamente des Staates bildet.“

Ao.Univ.-Prof. Dr. Thomas G. Olechowski ist Leiter der Abteilung Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs (KRGÖ) des Instituts für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.