Wie kalter Wind aus der Gruft: Glucks „Alceste“ in Innsbruck

(c) Elias Kern/Innsbrucker Festwochen
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Mit einer halbszenischen Aufführung der italienischen Fassung von Christoph Willibald Glucks Oper über eine Königin, die sich für ihren Mann opfern will, kehrte René Jacobs zu den Innsbrucker Festwochen für Alte Musik zurück: Jubel für lange Abschiedsklagen und finale Freude.

Der König wird sterben, wenn kein anderer für ihn stirbt: So lautet der lapidare Orakelspruch – und durch die wie versteinerte Gesangslinie, den grabesdüsteren Klang der Posaunen und die harmonische Fortschreitung wähnt man sich plötzlich vom mythischen Ambiente des Apolloheiligtums in Thessalien, wie es Gluck in „Alceste“ beschwört, auf jenen Friedhof in Sevilla versetzt, wo sich Tausende Jahre später Don Giovannis Diener Leporello vor der sprechenden Statue auf dem Grabmal des Komturs fürchtet. Ja, Mozart hatte Gluck schon einiges zu verdanken.

Der König, das ist der bereits dahinsiechende Admeto, und zum selbstlosen Opfer erklärt sich – zunächst im Geheimen – bald keine andere als die Königin bereit, Alceste, die liebende Gattin und Mutter. 1767, fünf Jahre nach dem gemeinsamen „Orfeo ed Euridice“, ging das Werk Glucks und seines opernreformatorischen Mitstreiters, des Librettisten Ranieri de' Calzabigi, in Wien erstmals über die Bühne. Die Hälfte des Mittelakts und noch einen Teil des dritten nimmt eine große Szenenfolge von Enthüllung, wütendem Protest und schmerzlicher Abschiede ein. Radikal zieht sich das Stück immer wieder von allen äußeren Handlungselementen zurück und konzentriert sich auf herzzerreißende Seelenschau.

2009 hatte René Jacobs nach zwölf Jahren Abschied von den Innsbrucker Festwochen genommen; nun kehrte er zum 40-Jahr-Jubiläum erstmals zurück – mit einem als konzertant geplanten Gastspiel einer Produktion der Ruhrtriennale. Doch unter seiner Leitung wurde daraus kurzerhand eine halbszenische Aufführung mit Auftritten auf dem Balkon, aus dem Publikum und Effekten von hinter der Bühne. Gewiss, die Musik verbannt die virtuose Herrschaftsgestik ausgedehnter Koloraturen (die Jacobs in früherem Repertoire gern erweitert) sowie die starre Form der Da-capo-Arie, schmiegt sich stattdessen ausdrucksvoll dem Text an. Und die Gefühlsausbrüche, die Gluck in für seine Zeit durchaus drastischen Farben zu schildern weiß, werden stets wieder aufgefangen von einer melodiösen Schlichtheit, die an Winckelmanns Diktum von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ denken lässt. Aber Jacobs' interpretatorische Fantasie schränkt das nicht ein, und gut so. Für ihn kommt nur die italienische Erstfassung des Werks infrage, nicht die öfter aufgeführte französische Umarbeitung, die etwa 2012 in Wien herausgebracht wurde.

Mächtig: Birgitte Christensen

Wirkt diese durch ihre vom Orchester begleiteten Rezitative nicht noch geschlossener, praktisch durchkomponiert? Jacobs beweist im Nu das Gegenteil. Da ist etwa die Norwegerin Birgitte Christensen als Alceste sofort in eine Aura des Außergewöhnlichen gehüllt, da ihr Auftritt mit der Ansprache an das mitleidende Volk von Harfenklängen umrauscht wird. Ja, die italienische Fassung mag Seccorezitative haben. Doch trocken ist bei Jacobs nichts. Stets scheint kalte Luft aus dem Grab zu wehen, wenn die Posaunen ihre düsteren Akkorde schmettern, jedes Mal versinnbildlicht der durchdringende Klageton der Oboen einen Stachel im Fleisch.

Auch mit den Streichern des 2005 in Gent gegründeten B'Rock Orchestra hat Jacobs speziell fahle Klangfarben erarbeitet. Sie finden ihre Fortsetzung im Gesang von Georg Nigl, der als Herold, Oberpriester, Höllengottheit und schließlich als gnädiger Deus ex Machina Apollo keine Scheu vor sängerischen Extremen zwischen Noblem und Grellem zeigt. Die vokale Krone gebührt jedoch Thomas Walker als Admeto: Christensen punktet zwar mit mächtigem und zugleich immer wieder fein dosiertem Sopranstrahl, doch ihr Vortrag erreicht nicht die Intensität des schottischen Tenors, der sich allen Anforderungen gewachsen zeigt, den lyrischen und heldischen Tönen ebenso wie der emotionalen Dringlichkeit. Dazu noch ein großartiger Chor (MusicAeterna) und ein famoses übriges Ensemble (mit Kristina Hammarström und Anicio Zorzi Giustiniani als Ismene und Evandro): große Begeisterung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2016)

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