Wahlaufhebung: Keine Fehlentscheidung, nur falsch begründet

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Der Verfassungsgerichtshof hätte die Gelegenheit nützen können, von der strengen Linie bei bloß möglichen Folgen von Rechtsverletzungen auf das Wahlergebnis abzugehen.

Wien. Es ist fast wie ein Fluch der bösen Tat: Die Probleme im Gefolge der Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl reißen nicht ab. Und auch die Diskussion über die Entscheidung des VfGH findet kein Ende. Jüngst hat sie Heinz Mayer in dieser Zeitung als „klare Fehlentscheidung“ abqualifiziert.

Wie nahezu alle Diskussionsbeiträge konzentriert sich auch Mayer nur auf jenen Teil der Begründung, der die Aufhebung auf eine bloß theoretische Möglichkeit einer Manipulation bei der Auszählung der Stimmen stützt, obwohl es dafür, wie der Gerichtshof selbst betont, keinerlei Hinweise gab. Außerdem sei ein Einfluss eventuell doch vorgekommener Manipulationen auf das Wahlergebnis auszuschließen. Die Aufhebung der Wahl stünde somit in einem eklatanten Widerspruch zum einschlägigen Text der Bundesverfassung, wonach eine solche nur dann aufzuheben ist, wenn die festgestellten Rechtswidrigkeiten auch von Einfluss auf das Ergebnis waren.

Vom Verfassungstext entfernt

Der VfGH versteht diese Formulierung des Art 141 Abs 1 B-VG allerdings schon seit jeher dahingehend, dass es ausreiche, wenn erwiesene Rechtsverletzungen auf das Ergebnis von Einfluss sein konnten; tatsächliche Manipulationen müssten daher nicht bewiesen werden. Es ist diese „ständige Judikatur“ und nicht der Text der Verfassung, mit der der Gerichtshof die Wahlaufhebung begründete.

Nun ist eine Diskrepanz zwischen dem in einem naiven Wortverständnis scheinbar klaren Verfassungstext und seiner gerichtlichen Interpretation alles andere als ein Einzelfall. Genauso wenig sind dies aber auch Änderungen einer langjährigen Rechtsprechung, selbst wenn sie in Hans Kelsens gestochener Kurrentschrift im VfGH archiviert ist, wie das ein Richter in der öffentlich übertragenen Verhandlung hervorhob. (Man denke nur an die Judikatur zum Eigentum oder zum Gleichheitssatz: Sie liefert eklatante Beispiele sowohl für einen kreativen Umgang mit dem Verfassungstext als auch für Änderungen einer Rechtsprechung, die einst Kelsen begründete.) Weder rechtfertigt daher das eine, von einer klaren Fehlentscheidung zu sprechen, noch kann das andere diese Entscheidung hinreichend begründen.

Es gibt ein gutes rechtliches Argument, den Verfassungstext gerade in diesem Fall nicht allzu streng beim Wort zu nehmen: Die heute ständige Rechtsprechung nahm ihren Anfang in einer Entscheidung von 1927 auf der Grundlage eines gleichartig formulierten einfachen Gesetzes. Diese Formulierung wurde erst 1958 in den Verfassungstext übernommen – in Kenntnis der Interpretation des gleichlautenden Gesetzes, die damit nicht korrigiert, sondern bekräftigt wurde. Der VfGH ist jedoch inzwischen über das Urteil von 1927 weit hinausgegangen. Damals waren Manipulationen in Verbindung mit den festgestellten Rechtswidrigkeiten ziemlich wahrscheinlich, wenngleich nicht beweisbar. Fanden die vermuteten Manipulationen tatsächlich statt, wäre eine Verfälschung des Wahlresultats gewiss gewesen. Und schließlich betonte der VfGH sein „Ermessen“, unter solchen Voraussetzungen eine Wahl aufzuheben oder auch nicht.

All das lag im Fall der Stichwahl ganz anders: Die möglichen Manipulationen waren so unwahrscheinlich wie ihre allfälligen Auswirkungen auf das Ergebnis (auch ohne diffizile und für Juristen schwer nachvollziehbare statistische Berechnungen). Und aus dem einst beanspruchten Ermessen ist ein Automatismus geworden. Diese mehr und mehr problematisch gewordene Judikatur wurde nunmehr geradezu versteinert. Künftige Wahlanfechtungen sind damit programmiert, und das ist demokratiepolitisch alles andere als erfreulich. Die weit unter 50 Prozent gesunkene Wahlbeteiligung bei der parallelen Wahlwiederholung im zweiten Wiener Bezirk ist ein Menetekel. Ebenso die angekündigte neuerliche Anfechtung dieser Wahl.

Dabei hätte gerade die Bundespräsidentenstichwahl eine gute Gelegenheit geboten, den eingeschlagenen Weg zu korrigieren. Zwar stellt Alexander Somek („Rechtspanorama“ vom 3. Oktober) zu Recht die rhetorische Frage, „was los gewesen wäre, wenn die ständige Rechtsprechung gerade in diesem Fall aufgegeben worden wäre“. Aber der VfGH hat ja diese Wahl noch aus einem zweiten Grund aufgehoben: wegen der vorzeitigen Bekanntgabe von Teilergebnissen, die in den sozialen Netzwerken diesmal eine nie zuvor gekannte Verbreitung fanden, lang bevor das letzte Wahllokal schloss. Warum ist so etwas in vielen Ländern explizit untersagt? Offensichtlich, weil man annimmt, dass dadurch Wähler beeinflusst werden könnten.

Der VfGH konnte unter dieser Annahme einen tatsächlichen Einfluss auf das äußerst knappe Ergebnis nicht ausschließen. Mir ist auch keine statistische Untersuchung bekannt, die das Gegenteil behauptet. Die Wahlaufhebung war somit aus diesem Grund durchaus gerechtfertigt. Sie auf die rein theoretische Möglichkeit einer Manipulation bei der Stimmenzählung zu stützen, war dagegen überflüssig. Pro futuro hätte diese Argumentation wieder auf das vernünftige Maß von 1927 zurückgeschraubt werden können.

Beisitzersystem diskreditiert

Ich halte diese Begründung auch deshalb für verfehlt, weil sie das System der von den Parteien nominierten Wahlbeisitzer diskreditiert – ein in Österreich erfundenes Modell, das die Korrektheit des Wahlergebnisses besser garantiert als jedes bürokratische Verfahren, das schon ob seiner inzwischen erreichten Kompliziertheit immer fehleranfällig sein wird. Es handelt sich um ein sich selbst regulierendes gesellschaftliches System, das als solches vom VfGH leider nicht verstanden wurde wie auch von den wenigsten seiner Kritiker.

Freiwillige Wahlbeisitzer sind in der Regel keine geschulten Bürokraten, haben aber ein Gespür für eventuelle Manipulationen zum Nachteil ihrer jeweiligen Partei. Letztlich kommt es bei einer Wahl primär darauf an und nicht auf den Selbstzweck formaler Vorschriften. Was die Beisitzer übereinstimmend mit ihrer Unterschrift als korrekt bezeugen, sollte daher, sofern das Gegenteil nicht offenkundig ist, einer erfolgreichen Anfechtung entzogen sein.


Theo Öhlinger, em. Univ.-Prof., lehrte am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2016)

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