Die Ärztekammer kann kein Streikamt sein

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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So gesichert das Streikrecht der Ärzte ist, so ungesichert ist die Kompetenz der Ärztekammer, Streiks zu initiieren und zu fördern. Sie könnte sonst ihre Mitglieder hoheitlich dazu verpflichten, an Kampfmaßnahmen teilzunehmen.

Wien. Der Streik der Wiener Ärztinnen und Ärzte im September und die schwelenden Auseinandersetzungen um deren Arbeits- und Entgeltbedingungen veranlassen einen Blick auf die zugrunde liegende Rechtslage. Weitere Streiks sind ja nicht auszuschließen.

Gänzlich unbestreitbar, weil durch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) abgesichert, ist zunächst, dass den Ärzten ein persönliches Streikrecht zukommt. Dieses Recht kann nur für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der hoheitlichen Staatsverwaltung unter engen Voraussetzungen ausgeschlossen werden. Laut EGMR gehören nur solche Staatsbedienstete der hoheitlichen Staatsverwaltung an, die an der Ausübung genuin hoheitlicher Befugnisse zumindest beteiligt sind. Krankenhäuser gehören nicht zur Staatsverwaltung im Sinn der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Österreich muss also dieses persönliche Streikrecht umfassend garantieren.

So wenig dieser Aspekt des Ärztestreiks noch in Zweifel gezogen werden kann, so ungesichert ist die Antwort auf die Frage, wer Streikmaßnahmen initiieren und organisieren darf und bezogen auf die Folgen (z. B. für allfällige Schadenersatzansprüche der Arbeitgeber) zu verantworten hat. Es war die Wiener Ärztekammer, die zum Streik aufgerufen und diesen dann auch organisatorisch durchgeführt hat. Dabei hat sie sich wohl davon leiten lassen, dass sie als Körperschaft öffentlichen Rechts dazu verhalten sei, die Interessen ihrer Mitglieder umfassend zu vertreten. Dass dieser Vertretungsanspruch auch die Kompetenz umfasst, Streik auszurufen und zu organisieren, lässt sich aber füglich bezweifeln.

Offensichtlich ist zunächst, dass sich die Ärztekammer nicht auf das durch Art. 11 EMRK gewährleistete persönliche Streikrecht und/oder auf das Koalitionsrecht berufen kann. Die Ärztekammer ist eine Körperschaft, deren Selbstverwaltung den zum Beitritt als Mitglieder verpflichteten Ärzten gesetzlich aufgetragen ist. Sie mag vieles sein und vieles dürfen, eine Koalition, wie etwa Gewerkschaften es sind, ist sie sicher nicht. Und Art. 11 garantiert keine Rechte der in der Kammer mitorganisierten Arbeitgeber, sondern nur solche der Arbeitnehmer und der Koalitionen.

Legalitätsprinzip unterworfen

Mitunter wird das Streikrecht der Ärztekammer daraus abgeleitet, dass ihr gesetzlich auch das Recht eingeräumt sein soll, für die angestellten Mitglieder Kollektivverträge zu verhandeln. Sobald ein derartiges Recht zugestanden sei, müsste auch das Recht, entsprechende „Verhandlungsmaßnahmen“ bis hin zum Streik zu setzen, als eingeräumt gelten. Dabei wird übersehen, dass die Ärztekammer als gesetzliche Körperschaft nicht über die für das gesamte Streikrecht maßgebliche „natürliche Handlungsfreiheit“ verfügt, sondern gemäß dem Legalitätsprinzip nur die ihr vom Staat übertragenen Aufgaben zu erfüllen hat – sonst nichts.

Es ist zweifelhaft, ob die allgemeinen Bestimmungen über die Interessenvertretung der angestellten Ärzte eine ausreichende Grundlage für ein körperschaftliches Streikrecht der Ärztekammer abgeben können. Auch die gesetzlich eingeräumte (subsidiäre) Kollektivvertragsfähigkeit der Ärztekammer steht im Kontext von Art. 11, wonach eine staatsnahe Konkurrenz zu freiwilligen Arbeitnehmervereinigungen nicht allzu weit reichende Befugnisse enthalten darf. Denn deren Inanspruchnahme liefe rasch Gefahr, die Aktionsmöglichkeiten der Gewerkschaften zu unterlaufen.

Bei realistischer Betrachtung der Staatsnähe der österreichischen Kammern sprechen die besseren Gründe dafür anzunehmen, dass die gesetzlich festgelegten Aufgaben der Ärztekammer gerade kein Kampfrecht einräumen wollen, sondern vielmehr eine Pflicht zur Kampfvermeidung enthalten. Der Gedanke, der Staat habe einer Kammer den Auftrag erteilt, sich als Streikamt zu formieren, würde auch mit der immer wieder und zu Recht eingeforderten Neutralität des Staates in Arbeitskampffragen schwer kollidieren.

Dies auch in Anbetracht der Tatsache, dass alle Ärzte verpflichtet sind, die Beschlüsse der Ärztekammer „im Rahmen ihres gesetzlichen Wirkungskreises“ zu befolgen (§ 69 Abs. 1 ÄrzteG). Gesteht man der Ärztekammer ein körperschaftliches Streikrecht zu, würde dies darauf hinauslaufen, dass die Ärztekammer ihren Mitgliedern die Teilnahme an einem beschlossenen Streik hoheitlich vorschreiben dürfte – ein absurder Gedanke!

Fonds ist nicht gegnerfrei

Zuletzt der wohl praxisrelevante Hinweis auf das Geld: Die Ärztekammer verfügt über einen wohl ausgestatteten Kampf- und Aktionsfonds, der derzeit mit ca. 24 Millionen Euro gefüllt ist. Dürfen diese Mittel dafür verwendet werden, Organisation und Folgen eines Streiks (Ausgleich von Entgeltausfällen bei den Streikenden, Rechtshilfe, Propagandamaterial etc.) abzudecken? Man wird dies eher verneinen müssen, da diese Mittel zumindest zur Hälfte durch Beiträge niedergelassener Ärzte aufgebracht wurden. Mit anderen Worten: Der hier als Streikfonds in Aussicht genommene Fonds ist nicht „gegnerfrei“. Es würde seltsam anmuten, wollte man die zumindest auch von Selbstständigen (Arbeitgebern) gebildeten Mittel zur Wahrnehmung allgemeiner ärztlicher Interessen umstandslos dafür verwenden, Kampfmaßnahmen Unselbständiger (Ärzte in Krankenanstalten) zu finanzieren.

Spätestens diese Überlegung und die damit notwendig verbundene Antizipation ärztepolitischer und kammerrechtlicher Weiterungen sollten die Funktionäre der Ärztekammer von der vermeintlichen Gewissheit befreien, ihre ungedeckte Indienststellung als Organwalter eines Amtes für Streikmaßnahmen sei unproblematisch.


Univ.-Prof. Dr. Alfred J. Noll ist Partner der Noll, Keider Rechtsanwalts GmbH.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2016)

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