Ein New Deal für den Rechtsstaat?

Der Text der Verfassung, genauer deren erster Artikel, ist am Verfassungsgerichtshof präsent. Aber wo sonst?
Der Text der Verfassung, genauer deren erster Artikel, ist am Verfassungsgerichtshof präsent. Aber wo sonst?(c) Fabian Heinzl
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Das Wissen um die Bedeutung der Verfassung und der Grundrechte für die Gesellschaft zu stärken wäre eine gute Investition in eine friedliche Zukunft. – Ein Appell.

Wien. 2016 war das Jahr der schlechten Stimmung. Ausufernder Hass im Netz, ein enthemmter Rechtspopulismus und Pessimismus bei Meinungsmachern bestimmten das Geschehen. Einiges spricht dafür, dass 2017 positive Zugänge an Kraft gewinnen. Die Entscheidung für den neuen Bundespräsidenten war auch eine für Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Regierungsspitzen zeigten sich zuletzt einig und entschlossen. In der Bildungspolitik gelang ein größerer Reformschritt. Die Ernennung eines Quereinsteigers zum Staatsoperndirektor lässt sich als Kampfansage gegen verkrustete Strukturen lesen. Der angekündigte New Deal in der Politik könnte also Gestalt annehmen. Schön wäre es, würde der Begriff der Vision nicht länger zur Diffamierung dienen, sondern für Kreativität und den Willen zur Veränderung zum Besseren stehen.

Dieser New Deal sollte auf Rechtsstaat, Justiz und Inneres nicht vergessen. Da würde es sich zunächst lohnen, die Bedeutung der Verfassung im öffentlichen Bewusstsein zu stärken. 2016 war von der Verfassung zwar oft die Rede, doch wer kennt in Österreich schon die Verfassung? Im Gegensatz zu anderen Staaten gibt es nicht ein einziges Verfassungsdokument, vielmehr sind Verfassungsbestimmungen über viele Dokumente verstreut. Die oft diskutierte Erstellung eines modernen Grundrechtskatalogs, ähnlich der EU-Charta der Grundrechte, würde über das Symbolische hinauswirken – letztlich geht es um die viel zitierten Werte, über die im Land Konsens herrscht. Diese hart erkämpften Grundrechte sind tatsächlich unser größtes immaterielles Anlagevermögen. Die Grundrechte werden, das hat 2016 gezeigt, von vielen Seiten angegriffen – von der extremen Rechten, von Terroristen, von jenen, die sich von Überwachung und Repression mehr Sicherheit erwarten.

Eine Kampagne für mehr Bewusstsein für die Verfassung und deren Inhalte wäre eine Investition in eine friedliche Zukunft. Stellen wir uns doch vor: Wir tragen die Verfassungstexte in alle Schulen und Dörfer, die bekanntesten Künstler lesen daraus vor, Zitate der Verfassung werden selbstverständlicher Teil jeder Schulfeier. Nicht nur der erste Artikel der EU-Grundrechtecharta – „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ – verdient breite Bekanntheit, auch viele weitere Gesetzestexte bilden eine lohnende Lektüre.

Wichtige Reformen vorbereitet

In der Justiz hat sich in den vergangenen Jahren viel bewegt. Jugendgerichtsbarkeit, Straf- und Familienrecht wurden modernisiert, Reformvorschläge für die dringend nötigen Verbesserungen im Strafvollzug und im Sachwalterschaftsrecht sind vorbereitet – sie dürfen nicht an den nötigen finanziellen Mitteln scheitern. Die Regierungsperiode bietet noch genug Zeit, um weitere große Reformschritte auf den Weg zu bringen: etwa die Schaffung von Sammelklagen, die Konsumenten die Rechtsverfolgung erleichtern; die Vertretung aller Angeklagten durch Verteidiger im Strafverfahren; die Schaffung von Jugendgerichten oder die Gründung einer Justizakademie, wie sie in der EU Standard ist.

Schulung in Polizei und Justiz

Überhaupt verdienen Personalauswahl und Schulung von Polizei und Justiz mehr Beachtung. Jetzt schon verschiebt sich der Fokus richtigerweise auf die Prüfung der Persönlichkeit, denn Empathie und soziale Kompetenz sind für den Polizei- und Justizdienst unabdingbar. Erlauben wir uns eine Vision auch für diesen Bereich. In einem Satz könnte sie lauten: Wer in Österreich in den Polizei- oder Richterdienst tritt, soll zuvor Praxis in einem anderen Bereich erworben haben – in einer Sozialeinrichtung, einer Bildungseinrichtung oder in der Privatwirtschaft. Nähern wir uns der für das Strafrecht naheliegenden Vision: Wir verschieben Ressourcen von der Verfolgung kleiner Ladendiebe zur Verfolgung von Cybercrime und Hasskriminalität, also hin zu Delikten, die für die Gesellschaft weit bedrohlicher sind als der Griff nach einem Lippenstift im Drogeriemarkt.

Für die Gesetzgebung gilt es, den Menschen auch im Gesetzestext stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Die Regelungen der EU weisen hier den Weg. Eine Passage einer kürzlich erlassenen Richtlinie zum besseren Schutz von Kindern vor Gericht zeigt einen neuen Ton in der Gesetzgebung. Diese Richtlinie fordert unter anderem die Schulung des Personals von Staatsanwaltschaften und Gefängnissen. Der Gesetzestext selbst schreibt vor, dass alle Mitarbeiter von Polizei, Staatsanwaltschaften und Haftanstalten, die Fälle mit Beteiligung von Kindern bearbeiten, spezifische Schulungen zu Kinderrechten, geeigneten Befragungsmethoden, Kinderpsychologie und zu einer kindgerechten Sprache erhalten.

Solche Regelungen zeigen, dass das humanistische Europa, als Lehre aus dem Leid von Faschismus und Zweitem Weltkrieg aufgebaut, lebt. Aus 2016 lernen wir, dass wir um diese unsere gesellschaftliche Grundordnung mehr kämpfen müssen als gedacht. Warum nicht 2017 damit anfangen.

Dr. Oliver Scheiber ist Richter in Wien und gibt hier seine persönliche Meinung wieder. Er ist auch Vorstandsmitglied mehrerer Menschenrechts-NGOs.

(Print-Ausgabe, 02.01.2017)

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