Verfahrenshilfe: Mehr Roulette als Garantie

Wen bekommt man als Pflichtverteidiger, wie viel Ahnung hat dieser vom Strafrecht? Für Angeklagte ein Glücksspiel.
Wen bekommt man als Pflichtverteidiger, wie viel Ahnung hat dieser vom Strafrecht? Für Angeklagte ein Glücksspiel. (c) APA/HERBERT NEUBAUER
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Pflichtverteidigung. Bereits 85 Prozent der anhängigen Verfahren am Wiener Straflandesgericht werden mit Verfahrenshilfe geführt. Die dafür zufällig ausgewählten Anwälte sind aber oft keine Strafverteidiger. Ein Systemwechsel ist nötig.

Wien. Wenn Sie jemals verdächtig sein sollten, eine Straftat begangen zu haben, sollten Sie vor allem eines haben: Geld. Während nur wenige Betroffene die Mittel haben, um sich mit einem Team an Strafrechtsexperten zu rüsten, können sich viele gar keinen Anwalt leisten. Zu behaupten, in Österreich seien die Chancen aller Beschuldigten – unabhängig von wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen – gleich, ist schlicht Realitätsverweigerung.

In der Theorie ist das Konzept der Verfahrenshilfe in Strafsachen überzeugend. Das Gesetz garantiert jedem das Recht, sich selbst zu verteidigen oder einen Verteidiger seiner Wahl zu erhalten. Fehlen die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers, wird vom Staat in Zusammenarbeit mit der Rechtsanwaltskammer ein Verfahrenshilfeanwalt bestellt. Unterschiede in der Qualität ergeben sich aber durch den Bestellungsmodus.

Die Bestellung folgt einem festen Schlüssel. Jeder Anwalt bekommt von der Kammer Verfahrenshilfen zugeteilt, ohne dass Spezialgebiete berücksichtigt werden. Die Rechtsanwaltskammer bekommt von der Republik einen Pauschalbetrag von weniger als der Hälfte des Werts der erbrachten Leistungen für die Pensionsversorgung der Rechtsanwälte erstattet. Die Anwälte selbst erbringen die Verfahrenshilfe dafür unentgeltlich.

Insgesamt erfolgten 2015 österreichweit 22.691 Bestellungen von Rechtsanwälten zu Verfahrenshelfern, 15.352 davon in Strafverfahren. Damit stellt die Strafverteidigung den überwiegenden Teil der Verfahrenshilfen. Bedenklich ist, dass am Wiener Straflandesgericht 85 Prozent der anhängigen Verfahren Verfahrenshilfesachen sind. Salopp gesagt, gehen den Strafverteidigern die zahlungsfähigen Klienten aus.

Strafrecht immer unattraktiver

Ohne die Möglichkeit, für die Leistung als Verfahrenshelfer finanziell zumindest entschädigt zu werden, wird dieses Rechtsgebiet immer weniger attraktiv. Wenn das zur Folge hat, dass es in Zukunft weniger qualifizierte Strafverteidiger gibt, wird der Großteil der Beschuldigten von „fachfremden“ Anwälten vertreten. Im Prozessalltag sind aber Experten gefragt.

Die Verfahrenshilfe gehört zu den Grundpfeilern eines freien und effektiven Zugangs zum Recht. Infolge der rotierenden Bestellung gleicht die Situation des Beschuldigten in der Praxis aber eher einem Roulette als einer Garantie.

Gründe für das stiefmütterliche Dasein der Verfahrenshilfe sind einerseits die, wie es scheint, willkürliche Bestellung und daraus resultierende Fehlbesetzungen – immer dann, wenn das Los keinen Strafverteidiger trifft. Auf der anderen Seite ist die Motivation der Anwälte, unentgeltlich Zeit und Energie in einen Fall zu stecken, beschränkt. Einzelanwälte können mit einer einzigen Verfahrenshilfe derart blockiert sein, dass daneben kaum Kapazitäten bleiben, um Honorare einzunehmen. Dieser Umstand und die Unentgeltlichkeit führen bei voll ausgelasteten Anwälten dazu, dass Verfahrenshilfefälle nur ausreichend erledigt werden (können). Qualitätseinbußen gehen zu Lasten eines fairen Verfahrens.

Abhilfe könnte eine Neugestaltung der Verfahrenshilfe bringen: Einerseits müsste bei der Bestellung des Verfahrenshelfers auf dessen fachliche Qualifikation Bedacht genommen werden. Andererseits würde eine Entlohnung zu einem Teil der tarifmäßigen Vergütung genügend Anreiz und auch wirtschaftlich die Möglichkeit schaffen, sich dem zugewiesenen Fall angemessen ausführlich zu widmen.

Lernen vom deutschen Modell

Ein Blick auf das deutsche Modell zeigt Wege auf: In Deutschland obliegt die Verfahrenshilfe in Strafsachen Anwälten, die laufend in diesem Rechtsgebiet tätig sind. Dafür erhalten Verteidiger zumindest die Mindestsätze. Im Ergebnis kümmern sich dann Anwälte mit entsprechender Erfahrung und Motivation um Beschuldigte und die Wahrung und Durchsetzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren.

Das System der Verfahrenshilfe bedarf einer Modernisierung, um den Anforderungen eines fairen Verfahrens und den gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht zu werden. Diese Verantwortung kann nicht der Rechtsanwaltskammer allein umgehängt werden. Schon der Gedanke der Waffengleichheit erfordert, dass sich der Staat wesentlich an der Umsetzung einer wirksamen Verfahrenshilfe beteiligt und die Kosten zumindest zum Mindesttarif deckt.

Mag.a Julia Kolda, selbstständige Rechtsanwältin, Northcote.Recht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2017)

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