Fremdenrecht: Höchstrichter zögern

Fremdenrecht Hoechstrichter zoegern
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Der EU-Gerichtshof hat eine "aufenthaltsfreundliche" Judikatur entwickelt. Bevor der Verwaltungsgerichtshof dieser folgt, fragt er sicherheitshalber noch einmal nach. Eine Kritik.

Wien. Im Mai dieses Jahres war es wieder einmal so weit. Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) stellte gleich eine ganze Liste von Fragen an den EuGH (C-256/11). Fragen zum Aufenthaltsrecht, die man in Wien offensichtlich nicht alleinverantwortlich beantworten will. Sie betreffen den türkischen Ehegatten einer Österreicherin (samt dreier gemeinsamer Kleinkinder), die aus Sri Lanka stammende Ehegattin eines Österreichers, einen seit 1984 in Österreich lebenden Kosovaren (der unter anderem darauf verweist, dass seine Mutter Österreicherin ist), einen Nigerianer, der seit 2005 mit einer Österreicherin verheiratet ist, sowie eine Serbin, die die Familienzusammenführung mit ihrem in Österreich lebenden Vater beantragt hat (der im Übrigen auch Österreicher ist).

All diese „drittstaatsangehörigen Familienmitglieder von Unionsbürgern“ haben den Aufenthalt in Österreich beantragt. Gemeinsam haben sie, dass ihre Anträge vom Innenministerium abgelehnt wurden. Hauptargument der Ablehnung: Sie können ihr Aufenthaltsrecht nicht auf Artikel 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) stützen, da keiner der beteiligten Österreicher sein „Recht auf Freizügigkeit“ innerhalb der EU in Anspruch genommen hat. Somit kann kein „abgeleitetes Aufenthaltsrecht“ geltend gemacht werden. Es gibt kein „grenzüberschreitendes Element“ in diesen Fällen. Daher ist auch nur innerstaatliches österreichisches Recht anzuwenden, und dabei fallen die Betroffenen (aus verschiedensten Gründen) um ihren Aufenthalt eben um.

Würde der österreichische Ehegatte mit seiner Gattin aus Sri Lanka etwa nach München umsiedeln, sähe die Sache höchstwahrscheinlich anders aus. Dann würde nämlich ein Österreicher von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen. Mit dem Überschreiten der Binnengrenze zu Deutschland wäre das Ganze ein Fall für Art 20 AEUV und die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte. Seine drittstaatsangehörige Ehegattin würden in diesem Fall ihr Aufenthaltsrecht vom österreichischen Ehegatten ableiten und wäre damit rechtmäßig in der EU. Da das Ehepaar nicht den Umweg über München geht, findet es sich – so wie Dutzende andere auch – vor dem VwGH wieder. Die letzte Möglichkeit, die drohende Abschiebung doch noch zu verhindern. Klingt alles nicht logisch. Ist es auch nicht.

Schwarzer Peter nach Luxemburg

Art. 267 AEUV berechtigt und verpflichtet den VwGH zur Vorlage einer Rechtsfrage, wenn es um die Auslegung der EU-Verträge geht. Im vorliegenden Fall äußert das österreichische Gericht Auslegungsbedenken hinsichtlich der mit Art 20 AEUV (Unionsbürgerschaft) verbundenen Aufenthaltsrechte von aus Drittstaaten stammenden Angehörigen von Unionsbürgern. Im Lichte der bisherigen Judikatur des EuGH scheint diese Vorlage jedoch unnötig. Die zur Entscheidung anstehenden Fälle könnten auch so bereits klar entschieden werden. Dies würde jedoch voraussetzen, dass der VwGH sich klar und unmissverständlich zur gängigen Judikatur des EuGH bekennt. Vor solch einer Entscheidung scheint man sich am Wiener Judenplatz aber offensichtlich drücken zu wollen. Lieber schiebt man den Schwarzen Peter nach Luxemburg, als dass man auf Konfrontationskurs mit der österreichischen Politik geht.

Unbestreitbar hat der EuGH in den letzten Jahren sehr „aufenthaltsfreundlich“ entschieden. Die aus der Unionsbürgerschaft abgeleiteten Rechte für drittstaatsangehörige Familienmitglieder wurden sukzessive ausgeweitet. Bereits 2004 im Fall Zhu und Chen (C-200/02) wurde der physische Grenzübertritt in ein anderes EU-Mitgliedsland nicht mehr als zwingend angesehen, um das Aufenthaltsrecht für ein Familienmitglied abzuleiten. Im März 2011 erfolgte ein weiterer Meilenstein für die künftige Rechtsprechungsentwicklung in diesem Bereich. In der Rechtssache Ruiz Zambrano (C-34/09) stellt der EuGH unter anderem klar, dass den aus einem Drittstaat stammenden Eltern von belgischen Unionsbürgern ein aus EU-Recht abgeleitetes Aufenthalts- und Arbeitsrecht zusteht, selbst wenn diese Kinder Belgien niemals verlassen haben. Wie der Gerichtshof darüber hinaus mehrfach hervorgehoben hat, ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten zu sein (etwa C-184/99 und C-138/02). Unter diesen Umständen steht Art 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen die Unionsbürgerschaft verleiht, verwehrt wird (vgl. C-135/08). Eine derartige Auswirkung liegt etwa vor, wenn einer Person aus einem Drittstaat in dem EU-Mitgliedsland, in dem ihre Kinder, die diesem Mitgliedstaat angehören und denen sie Unterhalt gewährt, der Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis verweigert werden.

Wenn Ehegatten illegal einreisen

Wirklich hilfreich für den VwGH wäre auch die Lektüre der Rechtssache C-459/99 vom 25. Juli 2002 gewesen. Dort entschied der EuGH, dass es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt ist, einem drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers die Aufenthaltserlaubnis zu verweigern bzw. diesen abzuschieben, nur weil er illegal ins Hoheitsgebiet eingereist ist oder weil sein Visum vor Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist. Nur eigenartig, dass in Wien anscheinend niemand diese Entscheidung kennt (sie wurde übrigens unter Zutun der österreichischen Generalanwältin Christine Stix-Hackl gefasst). Lieber drückt sich ein österreichisches Höchstgericht vor einer klaren, eigenständigen Entscheidung.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Angelegenheiten; er übt diverse Lehr- und Beratungstätigkeiten aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2011)

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