"Die Menschenrechte sind die Supernorm geworden"

Menschenrechte sind Supernorm geworden
Menschenrechte sind Supernorm geworden(c) EPA (PETER FOLEY)
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Schutzverantwortung: Manche Völkerrechtler sehen einen Paradigmenwechsel in ihrem Rechtsgebiet gekommen, manche sehen ihn erst kommen.

Innsbruck. „R2P“ ist ein Hoffnungsträger im Völkerrecht. Das Kürzel steht nicht etwa für einen Nachfolger von R2-D2, dem kleinen Roboter aus der Filmreihe „Star Wars“, der Raumschiffe reparieren kann, sondern für „Responsibility to Protect“. Der Begriff, der auf Deutsch mit „Schutzverantwortung“ übersetzt wird, steht für eine neue Denkfigur, die sich im Recht der Staatengemeinschaft breitmacht und keinen Raumschiffen zugute kommen soll, sondern den Menschenrechten. Manche Völkerrechtler sehen einen Paradigmenwechsel in ihrem Rechtsgebiet gekommen, manche sehen ihn erst kommen. Fest steht aber: Es wird umgedacht.

Das zeigte sich vorige Woche bei einer hochkarätig besetzten Tagung über R2P an der Universität Innsbruck, zu der Völkerrechtsprofessor Peter Hilpold und die Romanistin Ursula Moser, Leiterin des Zentrums für Kanada-Studien, in Kooperation mit der „Presse“ geladen hatten. Warum Kanada? Von dort hat die R2P zum Jahrtausendwechsel einen entscheidenden Anstoß erhalten, nachdem im Gefolge der Gräueltaten in Ruanda und Srebrenica die Vereinten Nationen vielen als unfähig erschienen waren und nach Auswegen aus ihrer Krise suchten. Der damalige Generalsekretär Kofi Annan begann offen den traditionellen Souveränitätsbegriff infrage zu stellen, demzufolge Staaten, die auf ihrem Territorium die Hoheit ausüben, keine Einmischung von außen zu akzeptieren bräuchten. Annan entwickelte das Konzept der „zwei Souveränitäten“: Wenn die Menschenrechte massiv verletzt werden, könnte die Souveränität des Einzelnen jener des Staates vorgehen. Die kanadische Regierung setzte dann eine internationale Studienkommission ein, die „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS). Die stellte 2001, zufällig am Tag vor den Anschlägen auf das World Trade Center, ihren viel beachteten Bericht vor: „The Responsibility to Protect“.

Souveränität, so erklärte Hilpold am Freitag in Innsbruck, wird darin als Verantwortung verstanden, die primär beim Staat liegt; nimmt er sie aber nicht wahr (sondern begeht er massive Menschenrechtsverstöße oder lässt er solche geschehen), so fällt diese Verantwortung an die Staatengemeinschaft. Greifen soll die Verantwortung zumindest bei Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen. Die Staatengemeinschaft ist dem ICISS-Konzept nach zu Prävention, Reaktion bis zur Intervention und dann zum Wiederaufbau angehalten. Man sieht: R2P ist gegenüber dem vielfach angefeindeten Begriff der „humanitären Intervention“ um ein Vorher und Nachher angereichert (Prävention, Aufbau), auch wenn sie sich der Grundidee nach gar nicht so stark davon unterscheidet.

„Es muss eine Pflicht geben“

Was ist dann neu an dem Konzept, das 2005 in einer Light-Version Eingang ins Abschlussdokument des UN-Weltgipfels in New York fand? Diese Frage kam auch in Innsbruck immer wieder, und die zweifellos progressivste Antwort gab die in Basel lehrende Amerikanerin Krista Schefer: Sie sieht die Staatengemeinschaft – vertreten durch den UN-Sicherheitsrat, der nach der Charta allein befugt ist, das völkerrechtliche Gewaltverbot zu durchbrechen – nicht bloß als ermächtigt an, die Schutzverantwortung wahrzunehmen, sondern als verpflichtet. „Wenn wir etwas Bedeutungsvolles haben wollen, muss es eine Pflicht geben“, sagte Schefer. Und, auf den Einwand Hilpolds, dass diese Sicht keineswegs allgemein anerkannt sei: „Ich sage nicht, dass das eine Mehrheitsmeinung ist.“

Erst Libyen, dann Syrien?

Andrea Gattini, Professor an der Universität Padua, gestand offen ein, dass man auf die Frage nach der Pflicht nur sagen könne: „Wir wissen es nicht, aber eher nein.“ Und gibt es rechtliche Konsequenzen, wenn die UN-Organe nicht handeln? „Wir wissen es nicht, aber eher nein“, wiederholte Gattini. Die Situation ist irgendwie typisch für das Völkerrecht, das in einem ständigen Wandel begriffen ist, ohne auch verbindlich festgehalten zu werden. Sie spiegelt sich in der Staatenpraxis wider: Als sich die Situation in Libyen heuer im Frühjahr zuspitzte, konnte sich der Sicherheitsrat zu zwei Resolutionen durchringen, wobei die zweite auch zum militärischen Eingreifen ermächtigte.

Nach der Analyse von Enzo Cannizzaro (Universität „La Sapienza“, Rom) wurde das vor allem deshalb möglich, weil sich die beiden ständigen Sicherheitsratsmitglieder Russland und China, traditionell stets Gegner jeglicher Einmischung, in Bezug auf R2P der Stimme enthielten. Aber böte Syrien, dessen Regime nach Aussagen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte für den Tod von 5000 Menschen verantwortlich ist, nicht auch längst einen Anlass zu reagieren? „Syrien wäre ein Fall für R2P“, sagte Manfred Nowak (Universität Wien). Syrien ist allerdings, mit seinem besonderen Verhältnis zu Russland, in einer stärkeren internationalen Position, als es Libyen war.

Fernand de Varennes, der zurzeit unter anderem an der Universität von Peking lehrt, sieht einen Paradigmenwechsel weniger im Recht als in der Politik und in deren Wachsamkeit, was Menschenrechte betrifft. Wenn, wie Nowak ausführte, die wichtigsten Ziele der UNO Frieden, Entwicklung und Menschenrechte sind, dann hat sich nach Varennes' Lesart der Paradigmenwechsel auch in der UN-Charta niedergeschlagen: „Die Menschenrechte sind die Supernorm geworden“, so Varennes, Entwicklung und Frieden seien bloß Bedingungen dafür.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2011)

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