Das Parlament muss wieder selbst entscheiden

Parlament muss wieder selbst
Parlament muss wieder selbst(c) Vinzenz Schüller
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Weder Beamte noch Klubmitarbeiter oder Kammern sollten Gesetze machen, sondern die Parlamentarier selbst. Und weder Bundesländer noch andere wichtige Institutionen dürfen eingespart werden.

Wien. In der Vorrede zu seinem Werk „De oratore“ preist Cicero das Glück, in einem vorzüglich verfassten Staat zu leben. Wir haben dieses Glück. Natürlich hat unsere Verfassung auch Schwächen, und noch mehr spüren wir, dass sie oft nicht richtig verstanden und nicht immer ins Rechtsleben umgesetzt wird. Aber im Prinzip funktioniert es, und dessen sollten wir uns bewusst sein.

Dass wir das Glück haben, in einer Demokratie zu leben, ist uns heute selbstverständlich. Aber ist es das wirklich? Es ist eine kleine Minderheit der Menschen, die in einem wirklich demokratischen Staat leben können. Die meisten Menschen leben unter einem rechts- oder linksautoritären Regime oder in Scheindemokratien, in denen freie Wahlen nicht die grundlegende Bedeutung für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens, insbesondere für die Gesetzgebung und die Regierung haben, die es rechtfertigen, von einer Demokratie zu sprechen.

Oft wird Demokratie auf die Bestellung der obersten Staatsleitung reduziert, besonders in der medialen Berichterstattung, derzeit vornehmlich im Fernsehen. Aber es geht nicht nur darum, vielleicht nicht einmal in erster Linie. Das Wichtigste ist doch die inhaltliche Gestaltung der Regeln, die das Zusammenleben der Menschen ordnen. Ein Gemeinwesen, in dem ein– wenn auch gewählter – Präsident mit einer von ihm eingesetzten Regierung diese Regeln nach Gutdünken gestalten kann, ist nicht demokratisch „vorzüglich verfasst“– in dem von Cicero gepriesenen Sinn. Selbst dann nicht, wenn diese Regeln formal durch ein Parlament, eine Duma oder einen Volkskongress bestätigt werden müssen. Demokratie heißt „Teilnahme der Normunterworfenen an der Normsetzung“. Und daher müssen wir die Einrichtungen, die das gewährleisten, ernst nehmen.

Unbehagen besteht zu Recht

Das Unbehagen, das wir gespürt haben, als in den letzten Jahren – ich erinnere an Budgetbegleitgesetze und Sparpakete – mehrfach parlamentarische Diskussionen und Beschlussfassungen bloß als lästige Formalitäten behandelt wurden, war nicht unbegründet. Wir reduzieren in der öffentlichen Diskussion – ich übertreibe jetzt natürlich – die Frage der funktionsgerechten Ausgestaltung demokratischer Gesetzgebungsverfahren auf die Forderung nach einer Volksgesetzgebung durch Volksabstimmung nach erfolgreichem Volksbegehren. Diese Diskussion hat es schon vor rund 30 Jahren gegeben – übrigens auf wesentlich höherem Niveau als heute, wo vor allem darüber diskutiert wird, wie erfolgreich ein Volksbegehren sein muss, damit eine Volksgesetzgebung vorgesehen sein soll. Aber über Zahlen (700.000, 200.000?) ist es halt einfacher zu diskutieren als über eine adäquate Ausgestaltung eines solchen Modells. Damals wurde etwa über das Zusammenspiel von direktdemokratischen Elementen und den Aufgaben des Parlaments bei solcher Konzeption von Gesetzgebungsverfahren diskutiert. Ein Volksbegehren wird doch wohl nach wie vor an das Parlament gerichtet sein und dann, wenn das Parlament der Initiative nicht entspricht, gegebenenfalls zu einer Volksabstimmung führen können. Oder denkt man ernstlich daran, über das Ergebnis eines Volksbegehrens abzustimmen? Das wäre dann eine Automatik, vor der Bundespräsident Fischer zu Recht gewarnt hat. Wer soll denn dann kontrollieren, ob das, was begehrt wird, überhaupt einer Abstimmung zugänglich ist?

Man muss sich auch bewusst sein, dass hier schwierige Fragen zu lösen sind und dass von der Ausgestaltung des Modells viel abhängt: das Verhältnis zum Völkerrecht und zum Europarecht mit dem Sonderproblem der Bindung auch an eine sich möglicherweise wandelnden Judikatur des EuGH oder die Schwierigkeiten, die unsere zersplitterte Verfassungsrechtslage mit ihren noch immer hunderten Verfassungsbestimmungen bereitet, möchte ich nur als Beispiele nennen.

Ein anderer Aspekt der Demokratie, der auch etwas mit Gewaltenteilung zu tun hat: Man hört in letzter Zeit wieder verstärkt von Ideen, die eine stark autoritäre Färbung haben. Ich meine nicht nur den – auch heute mehr oder weniger versteckt geäußerten – Ruf nach dem starken Mann. Es geschieht oft subtiler: Abschaffung der Landtage, Reduzierung der Parlamente, aber auch der Regierungen zugunsten eines an Kompetenzen stärkeren Bundeskanzlers oder Landeshauptmanns, die direkt gewählt werden sollten. Zentralisierung der Aufgabenbesorgung wird verlangt, örtliche und sachliche Zentralisierung. Die Abschaffung der Bundesländer und des Bundespräsidenten steht auch auf der Agenda.

Natürlich ist eine zentrale autoritäre Führung eines Staates einfacher und billiger. Aber die Effizienz ist nicht der einzige Wert, der eine Verfassung „vorzüglich“ macht. Merkt man denn nicht, was man durch solche Forderungen an Werten gefährdet? Die Gewaltenbalance mit ihrer machtbegrenzenden und freiheitssichernden Funktion steht auf dem Spiel.

Freilich drohen der gewaltenteiligen Demokratie auch andere Gefahren. Denken Sie an das, was sich da unter dem schillernden Begriff der Piraterie entwickelt. Klingt ja so nett und erinnert vielleicht an das, was manche in der Jugendzeit geträumt oder gespielt haben. Aber denken wir doch daran, was hinter diesem Begriff steht: Ablehnung von Recht und Bekenntnis zum Rechtsbruch, Zerschlagung rechtlicher Strukturen und der Griff auf das Eigentum anderer.

Aber es droht auch die Gefahr, dass sich die Demokratie zu einer Oligarchie wandelt. Nicht dass ich glaube, dass ein Stronach, wenn er sich eine Partei hält, die Demokratie ernsthaft gefährden könnte. Frank Stronach ist die Realisierung seiner Ideen nicht einmal im Fußballsport und im Pferdesport gelungen. Also das ist es nicht.

Aber wir müssen bedenken, dass die Globalisierung und Ökonomisierung zu einem beachtlichen Verlust der Gestaltungskraft der demokratischen Institutionen geführt haben. Täglich können wir hören, dass staatliche und internationale Organe, Regierung oder Notenbanken auf nationaler und internationaler Ebene etwas entschieden hätten, aber man müsse abwarten, wie die Finanzmärkte darauf reagieren. Diese unglaubliche Macht der Finanzmärkte ist weder national noch international demokratisch legitimiert und kontrolliert. Damit haben wir uns aber in einem Teilbereich der gesellschaftlichen Ordnung nicht nur von der Verfassung, sondern auch von der Staatsform gelöst. Die Demokratie wurde in einem sehr wichtigen Bereich durch eine Oligarchie abgelöst.

Ob man das je wieder in den Griff bekommen kann? Voraussetzung wäre, dass die Staaten wieder ihre Steuerungsfunktion zu übernehmen bereit sind: In einer Demokratie kann das Verhältnis von Staat und Gesellschaft nur so funktionieren, dass der Staat oder nach staatlicher Ermächtigung eine internationale Gemeinschaft Spielregeln setzen und durchsetzen kann. Nur innerhalb dieser Spielregeln darf Wettbewerb stattfinden und Wirtschaft sich entfalten.

Ich bin davon überzeugt, dass die Spielregeln der Demokratie verbessert werden müssen. Wir müssten die Idee der Gewaltenteilung auch im Gesetzgebungsverfahren wieder realisieren; es wäre erforderlich, die drei Elemente der Entstehung von Rechtsvorschriften klar auseinanderzuhalten, die Ebene der Vorschläge, der breiten Diskussion und die Ebene der Entscheidung.

Keine Regierungsgesetzgebung

Regierungsvorlagen sind Vorschläge – und sie sollen ausgewogen und effizient sein; und sie dürften in der Berichterstattung nicht anders qualifiziert werden. So hat etwa der ORF im Teletext berichtet, dass ein Ministerialentwurf in Begutachtung geschickt wurde. Und dann geschrieben: Ab irgendeinem Datum wird dann das oder das gelten. Obwohl noch nicht einmal eine Regierungsvorlage existiert. So ein Vermischen ist von Übel. Man weiß nicht mehr, was Vorschlag und was Entscheidung ist, und die Bedeutung des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses wird heruntergespielt. Es wird immer öfter so getan, als hätten wir eine Regierungsgesetzgebung.

Aber der Diskurs über Gesetzesvorschläge muss im Parlament stattfinden, inhaltlich und personell und unter Einbeziehung der interessierten Bevölkerung. Die heute bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten könnten im Sinn einer Verbesserung unserer Demokratie zu einer Verbreiterung der Teilnahme der Staatsbürger am Prozess der Entstehung von Rechtsvorschriften genutzt werden: Da bedarf es freilich einerseits qualitätsvoller Information über die Sache, aber auch über völkerrechtliche, europarechtliche oder verfassungsrechtliche Vorgaben, über Interdependenzen und Folgeabschätzungen; zum anderen bedarf es einer wohl ausgewogenen Ordnung solcher Einflussmöglichkeiten, damit wir die Nutzung von Partizipationswegen nicht unnötig erschweren, andererseits aber chaotische – und daher ineffiziente – Ergebnisse der Partizipation vermeiden.

Die entscheidende Willensbildung muss im Parlament verbleiben – auch inhaltlich. Nach unserer Verfassung haben die Abgeordneten die Verantwortung für die Gesetze. Auch wenn ich mitunter mitleidig belächelt werde, wenn ich das sage. Diese Verantwortung kann auch nicht durch Nichtgebrauch verändert werden. Die Abgeordneten müssen eine doppelte Aufgabe wahrnehmen: Einerseits in Rückkoppelung an ihre Wahlkreise den politischen Willen der Bevölkerung in den parlamentarischen Entscheidungsprozess einbringen, und andererseits sind sie verantwortlich dafür, dass die Sachprobleme ordentlich gelöst werden.

Qualitativ hochwertige Abgeordnete nötig

Ich halte daher den Weg einer Wahlrechtsreform, die es ermöglicht, dass sowohl Abgeordnete ins Parlament kommen, die eine starke Bindung zu ihrem Wahlkreis haben (Stichwort: Persönlichkeitswahlrecht), als auch solche, die die Sachprobleme möglichst gut bewältigen können, für sehr vernünftig. Ob die Formel 100+65 oder 100+83 die geeignete Lösung ist, weiß ich nicht. Aber die Richtung stimmt, wenn sie eine personelle Struktur im Nationalrat ermöglicht, in der der Gesetzgeber beiden Aufgaben nachkommen kann.

Die Entscheidung über den Inhalt der Gesetze muss wieder ins Parlament! So wichtig die Mitarbeiter in den Klubs, die Beamten der Ressorts, die Sachverständigen der Kammern und großen Verbände und die außenstehenden Experten sind: Die Parlamentarier müssen die inhaltliche Gestaltungsaufgabe wieder wahrnehmen. Das alles erfordert freilich qualitativ hochwertige Abgeordnete und einen parlamentarischen Dienst auf hohem Niveau. Das wären Erfordernisse einer Demokratiereform auf Basis unserer Verfassung.

„Denkt man ernstlich daran, über das Ergebnis von Volksbegehren abzustimmen? Vor so einer Automatik warnt der Bundespräsident zu Recht.“

„Es droht die Gefahr, dass sich die Demokratie zu einer Oligarchie wandelt. Die Macht der Finanzmärkte ist nicht demokratisch legitimiert.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2012)

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