Österreichs Strafjustiz eine Geheimjustiz?

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Zugang zum Recht. Bei Weitem nicht alle letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen werden im Internet veröffentlicht. Dabei wäre der Zugang zu ihnen für Rechtsberufe und Interessierte wichtig, um auf die Rechtsprechung reagieren zu können.

Wien. Am 17. Mai wurde an dieser Stelle über ein Urteil des Oberlandesgerichts Wien berichtet: Ein sogenannter Topanwalt hatte sich vor Beginn einer Gerichtsverhandlung von einer Boulevardzeitung mit seinem Klienten ohne dessen Erlaubnis ablichten lassen. Da der Klient auf dem Foto erkennbar war, verlor er prompt seine Arbeitsstelle. Das Oberlandesgericht bestätigte als Letztinstanz die Verurteilung des Mediums wegen Verletzung des Identitätsschutzes, das Verhalten des Rechtsanwaltes bezeichnete es als „eigenmächtig, lediglich seinen eigenen Interessen“ dienend.

Diese Entscheidung ist nicht nur für die Rechtsanwaltschaft wesentlich, sondern auch von öffentlichem Interesse. Es werden darin doch ganz deutlich auch Medien kritisiert, deren Gerichtsberichterstattung sich oft mehr durch Bildmaterial als durch Wortberichterstattung auszeichnet. Wer nach dem Volltext der Entscheidung sucht, tut dies vergeblich. Sie ist weder im digitalen Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS), das unter anderem eine Datenbank an Gerichtsentscheidungen enthält, noch sonst auffindbar.

Schwere Grundrechtseingriffe

Offenbar ist das Urteil nicht veröffentlicht worden und damit mit Ausnahme der am Verfahren beteiligten (und von diesen informierten) Personen weder Rechtsberufen (Gerichten, Staatsanwaltschaften, Rechtsanwaltschaft, Verteidigung, Opfervertretungen etc.) noch der Allgemeinheit zugänglich. Dies stimmt umso nachdenklicher, als Oberlandesgerichte (es gibt vier davon: Innsbruck, Graz, Linz und Wien) in vielen Rechtsbereichen die letzte Instanz im ordentlichen Verfahren sind, also ständig unanfechtbare Entscheidungen fällen. Sie wachen unter anderem über die Zulässigkeit von Ermittlungsmaßnahmen, die mit schweren Grundrechtseingriffen verbundenen sind (Festnahme, U-Haft, Hausdurchsuchung, Kontoöffnung, Telefonüberwachung etc.), und entscheiden endgültig über Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile – auch in medienrechtlichen Angelegenheiten. Der Oberste Gerichtshof, von der Verfassung zur obersten Instanz in Zivil- und Strafsachen berufen, ist in diesen Fällen bloß ausnahmsweise anrufbar.

Wie wirkt also Recht, wenn es nicht bekannt ist? Wie können Rechtsunterworfene sich rechtsprechungskonform verhalten, wie Gerichte judizieren oder Rechtsvertretungen argumentieren, wenn solche Entscheidungen nicht publik werden? Sowohl die Geltendmachung von Rechtsansprüchen (wie dem staatlichen Verfolgungsrecht, Verteidigungsrechten, Entschädigungsansprüchen) als auch ein Urteil darüber erfordern eine möglichst breite Entscheidungsgrundlage. Letztinstanzliche Entscheidungen gehören wohl unstrittig dazu.

Der Oberste Gerichtshof (nach § 15 des Bundesgesetzes über den OGH) ist verpflichtet, Entscheidungen, die „sich nicht in einer begründungslosen Zurückweisung eines Rechtsmittels erschöpfen“ im Volltext öffentlich zugänglich zu machen. (Ausgenommen sind Entscheidungen in schriftlich geführten Verfahren, wenn mit der Veröffentlichung eine Verletzung des Identitätsschutzes zu befürchten ist.) Oberlandesgerichte müssen ihre Entscheidungen hingegen nach „Maßgabe der personellen und technischen Voraussetzungen“ und nur dann veröffentlichen, wenn sie „von allgemeinem über den Einzelfall hinausgehenden Interesse“ sind, ihnen also veröffentlichungswürdig erscheinen (§ 48a Gerichtsorganisationsgesetz). Soweit überprüfbar, ist dies nur vereinzelt der Fall, was ein kurzer Blick ins RIS bestätigt: Die Eingabe „OLG“ (Oberlandesgericht) verknüpft mit „StPO“ (Strafprozessordnung) weist 160, verknüpft mit „StGB“ 74 Entscheidungen (im Volltext) aus. Beim Obersten Gerichtshof sind es hingegen 8545 bzw. 9782. Die Zahlen sprechen für sich. Das Gesetz ermöglicht den Oberlandesgerichten eine Veröffentlichungspraxis, mit der, gewollt oder nicht, eine wirkungsmächtige Deutungshoheit verbunden ist.

So bleibt auch erstinstanzlichen Gerichten nicht nur ein viel zu großer Teil an letztinstanzlicher Rechtsprechung verborgen; die Spruchpraxis kann auch nicht auf Mängel oder Widersprüche geprüft werden. So kommt es schon vor, dass zwei Oberlandesgerichte über ein und denselben Sachverhalt gegenteilig entscheiden.

Es ist höchste Zeit, diesen Zustand zu ändern. In einem liberalen, demokratischen Rechtsstaat sind (zumindest) alle letztinstanzlichen Urteile als veröffentlichungswürdig anzusehen. Rechtsprechung und ihre Leitlinien entwickeln sich immer aus einem Einzelfall heraus, insofern sind auch alle Entscheidungen von „allgemeinem Interesse“. Es haben nicht nur die am Verfahren beteiligten Personen und Behörden, sondern alle ein Recht, über die Tätigkeit von letztinstanzlichen Gerichten informiert zu werden. Nur so können sie sich – in anderen Verfahren ebenso wie im öffentlichen Diskurs – kritisch damit auseinandersetzen. Ausnahmen sind für besonders schutzwürdige Bereiche vorzusehen, etwa bei Delikten gegen die sexuelle Integrität und im Jugendstrafrecht.

Digital ohnehin verfügbar

Einwänden, wonach es an personellen und technischen Möglichkeiten fehle, ist entgegenzuhalten, dass sämtliche Entscheidungen in Schriftform abzufassen und den Beteiligten nahezu immer auf elektronischem Weg zuzustellen sind. Es existiert somit auch eine digitale Version, weswegen sich die Veröffentlichung technisch einfach umsetzen ließe. Zusätzlicher personeller Aufwand ist lediglich für die Gewährleistung des Anonymitätsschutzes zu erwarten, aber auch diese könnte beim Verfassen der jeweiligen Entscheidung berücksichtigt werden.

Letztlich ist aber auch die Gesetzgebung dazu verpflichtet, für einen ungehinderten Zugang zu letztinstanzlichen Entscheidungen zu sorgen und so den rechtsstaatlichen, liberalen und demokratischen Grundprinzipien der Verfassung zum Durchbruch zu verhelfen.

Zurück zum Eingangsbeispiel: Die Autorin hat das Oberlandesgericht Wien am 18. Mai um Übermittlung des Urteils zum Zweck der Verbreitung in den interessierten Kreisen gebeten. Eine Antwort steht bis heute aus.

Dr. Alexia Stuefer ist Partnerin im Rechtsanwaltsbüro Soyer Kier Stuefer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2015)

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