"Barrierefreiheit ist auch eine Riesenchance"

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Symbolbild.(c) Clemens Fabry
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Diskriminierungsverbot. Ab dem Jahreswechsel sollten alle Unternehmen barrierefrei sein − was vielen noch Kopfzerbrechen bereitet.

Wien. „Wenn man das jetzt in zwei, drei Monaten hinbiegen will, ist es ein Riesenaufwand. Dabei hätten viele Unternehmen es im Lauf der vergangenen zehn Jahre ohne hohe Zusatzkosten bewältigen können“, sagt Gregor Demblin.

Es geht um Barrierefreiheit, Demblin ist Partner beim darauf spezialisierten Beratungsunternehmen DisAbility Performance. Die gesetzliche Vorgabe dafür gibt es seit 1. Jänner 2006, damals trat das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Für größere bauliche Maßnahmen, die Privatfirmen setzen müssen, um barrierefrei zu werden, läuft die Übergangsfrist heuer zum Jahresende aus.

Was heißt das konkret? Das Gesetz schreibt vor, dass niemand aufgrund einer Behinderung „unmittelbar oder mittelbar diskriminiert“ werden darf. Und weiter: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“

Laut Demblin bedeutet das, dass umfassende Barrierefreiheit herzustellen ist: „Alles ist betroffen, von Gebäuden bis zur Information.“ Um den Zutritt ins Geschäftslokal geht es genauso wie um den Internetauftritt: Websites müssen so gestaltet sein, dass man sich z. B. mit Ausgabegeräten, die Inhalte vorlesen, gut darauf zurechtfindet. Im Zuge einer Neugestaltung der Homepage, die meist ohnehin alle paar Jahre ansteht, koste es kaum mehr, sie barrierefrei zu programmieren, sagt Demblin. „Ein nachträglicher Umbau ist aber teuer.“ Genauso, wie man bei einem Lokal, das man vor ein paar Jahren neu angemietet hat, ebenfalls gleich auf Barrierefreiheit hätte schauen können – hätte man nur damals schon daran gedacht.

Frage der Zumutbarkeit

Die Politik sei den Unternehmen nicht genug zur Hand gegangen, kritisiert Demblin. So seien Leitlinien für Unternehmen angekündigt, aber nie erstellt worden. Seitens der Wirtschaft wiederum höre man, das Gesetz sei „eine Zumutung“ und die Vorgaben seien nicht einzuhalten. Als Beispiel würden immer wieder die Toiletten genannt, die man „doch jetzt nicht alle umbauen“ könne. Auch das mache Informationsdefizite deutlich: Es sei gar nicht gesagt, dass wirklich jedes Unternehmen ab dem Stichtag 1. Jänner 2016 behindertengerechte Toiletten braucht. „Auch Blindenleitsysteme müssen nicht überall sein, wenn man keinen einzigen Kunden oder Mitarbeiter hat, für den das wichtig ist.“ Wohl aber müsse man rasch reagieren können, sobald ein Bedarf entsteht.

Auf die Zumutbarkeit kommt es ebenfalls an: Was wirtschaftlich untragbar ist, muss man nicht tun, genauso wenig muss man sein Geschäftslokal aufgeben, wenn ein behindertengerechter Umbau an technische Grenzen stößt. „Niemand muss deshalb zusperren“, sagt Demblin. Kontrolliert wird die Einhaltung der Barrierefreiheit nicht etwa durch eine Behörde, sondern durch die Betroffenen selbst: Wer sich diskriminiert fühlt, kann ein Schlichtungsverfahren beim Bundessozialamt anstrengen und wenn dieses erfolglos ist, auf Schadenersatz klagen. Allerdings nicht auch auf Beseitigung der Barriere – eine Schwachstelle des Gesetzes, wie der Berater meint.

Ihn stört auch, dass immer nur von Belastungen und Kosten der Barrierefreiheit die Rede ist. Dabei sei sie auch eine Riesenchance, denn es geht um einen großen und weiter wachsenden Markt: Rund 20 Prozent der Bevölkerung sind von irgendeiner Einschränkung betroffen, durch die Alterung der Gesellschaft werden es tendenziell mehr. Plakativ gesprochen, verzichten Unternehmen, die nicht barrierefrei sind, im Schnitt auf 20 Prozent ihrer potenziellen Kunden. (cka)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2015)

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