„Pickerl“ fürs Haus sorgt für Chaos

Das Stiegenhaus eines Altbaus, ein Hort der Gefahr – zumindest wenn es nach den aktuellen Bau- und Sicherheitsvorschriften geht.
Das Stiegenhaus eines Altbaus, ein Hort der Gefahr – zumindest wenn es nach den aktuellen Bau- und Sicherheitsvorschriften geht. Clemens Fabry
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Wann gilt ein Mietshaus als sicher? Eine Norm, die das regelt, sorgt für Verwirrung, weil viele Gründerzeithäuser völlig umgebaut werden müssten. Jetzt soll es Erleichterung geben.

Wien. Ein Handlauf einer Stiege hat viele Möglichkeiten, gegen die Bauvorschriften zu verstoßen. Wenn er beispielsweise nicht vollständig zu umfassen ist. Wenn er nicht durchlaufend, sondern in einer Ecke unterbrochen ist. Wenn es keinen zweiten Handlauf auf der anderen Stiegenseite gibt. Und wenn er nicht auf einer Höhe von 100 Zentimetern angebracht ist.

All diese Punkte sind Stand der Technik und bei Neubauten selbstverständlich. Doch in der Gründerzeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Menschen kleiner, die Handläufe waren meist wunderschön gearbeitet – aber den aktuellen Bauvorschriften entsprechen sie nicht. Und das könnte für viele Mietzinshäuser und Wohnungsbesitzer in Wien (fast jede dritte Wohnung wurde vor 1919 errichtet) zu einem gravierenden Problem werden: Denn eine ÖNORM schreibt vor, wann ein Haus als sicher gilt. Und die Handläufe sind nur ein Punkt, der nicht der Norm entspricht.

„Manche Menschen kommen verzweifelt zu uns und sagen, nach der Überprüfung können sie jetzt gleich das Haus abreißen“, berichtet Jörg Bednar, Berater beim Zentralverband Haus und Eigentum. Der Bericht des Sachverständigen sei durchgehend rot – alles Mängel, die im Haus festgestellt wurden. „Wenn man die alle beheben muss – dann gute Nacht.“

Ein Jahr lang erarbeitet

Es ist die ÖNORM B1300 „Objektsicherheitsprüfungen für Wohngebäude“, die bei Haus- und Wohnungsbesitzern für Verzweiflung sorgt. „Sie soll einen Anhaltspunkt geben, welche baulichen Voraussetzungen ein Mietshaus für die Sicherheit der Bewohner und Besucher erfüllen muss“, erklärt Stefan Wagmeister von Austrian Standards, die die Norm erarbeitet haben. Jedes Jahr muss ein Experte das Haus begehen und Mängel dokumentieren (die Kosten, je nach Sachverständigem: weniger als 0,5 bis ein Euro pro Quadratmeter).

Die Initiative für die Norm kam 2011 aus dem Wirtschaftsministerium, das Bundesgebäude verwaltet. Vertreter des Magistrats Wien, der Unfallversicherung, der TU Wien, der Berufsfeuerwehr, der Hausverwalter und viele Sachverständige erarbeiteten die Vorschriften, die im November 2012 veröffentlicht wurden. Seither herrscht Verwirrung.

Die ÖNORM B1300 ist nicht verpflichtend, sie ist freiwillig. Aber: Wenn in einem Haus etwas passiert, wenn jemand aus dem Fenster fällt oder über die Stiege stolpert, zieht das Gericht zur Beurteilung die Norm heran. Und bei Altbauten entsprechen viele Details nicht dem Stand der Technik, wie sie die B1300 bzw. die Richtlinien des Instituts für Bautechnik (ÖIB) vorschreiben.

„Wenn man alle Häuser in Wien entsprechend anpassen muss, wird das enorm teuer“, meint Karin Sammer vom Verband der Immobilienwirtschaft. Grundsätzlich sei die Idee nicht schlecht, aber in der Praxis seien die Folgen für Bestandsgebäude nicht abzuschätzen: „Fensterbänke sind zu niedrig, die Handläufe passen nicht, sogar bei der Breite der Treppenhäuser gibt es Probleme.“

Also alles umbauen? Andreas Kloiber, Leiter der Abteilung Bautechnik beim TÜV Austria, der Hausüberprüfungen anbietet, sieht das nüchtern: Er als Prüfer weise nur auf die Mängel hin, es stehe den Hauseigentümern frei, sie zu beheben (außer bei Gefahr im Verzug). Die oder der Eigentümer haften am Ende bei Unfällen.

Ein Prüfer werde natürlich jeden kleinen Mangel registrieren, weil er sonst selbst hafte, meint Bednar. Daher die Berichte mit den vielen Anmerkungen. Die Besitzer sollten darauf aber „mit Maß und Ziel“ reagieren. „Man muss abschätzen, ob eine Höhe beim Handlauf von 98 oder 95 Zentimetern wirklich sofort geändert gehört.“

Kloiber meint, dass es in erster Linie um die Sicherheit der Fluchtwege gehe. „Einen gesamten Altbau auf den Stand der heutigen Technik anzupassen geht gar nicht.“ Auch Peter Kovacs, Leiter der Magistratsabteilung 34 für Bau- und Gebäudemanagement bei der Stadt Wien, spricht von notwendigen Abschätzungen. Bei einer Zwischentür, die aus Glas ist, müsse nicht unbedingt die ganze Tür getauscht oder Sicherheitsglas eingebaut werden. „Man kann das Problem auch mit einer Splitterfolie beheben.“ Es müsse „nicht alles sofort umgebaut werden“.

„Konsensmäßiger Zustand“

Vielleicht sogar gar nicht. Denn bei Austrian Standards diskutiert man nach der heftigen Aufregung über die ÖNORM B1300 über eine Entschärfung durch den Zusatz, dass das Haus in einem „konsensmäßigen Zustand“ sein muss. Das ist ein technischer Begriff, garantiert aber im Wesentlichen, dass ein 150 Jahre altes Haus nicht vollständig einem Neubau entsprechen muss. Auch die jährliche Überprüfung wäre dann nicht immer notwendig.

Wie weit geht grundsätzlich die Eigenverantwortung der Menschen? Kovacs meint, dass früher Kinder auch nicht reihenweise aus den Fenstern mit falscher Normhöhe gefallen seien. Karin Sammer spricht von Regelwut und dem Bedürfnis nach Sicherheit: „Irgendwann wird es im Stiegenhaus noch eine Helmpflicht geben.“

AUF EINEN BLICK

Die ÖNORM B1300 „Sicherheitsprüfungen bei Wohngebäuden“ soll eine Art Pickerl für ein Haus sein. Die jährliche Überprüfung durch einen Sachverständigen soll sicherstellen, dass vom Mietshaus „keine Gefahr für die Sicherheit von Personen oder deren Eigentum ausgeht“, wie der TÜV Austria erklärt. Im Schadensfall haften die Liegenschaftseigentümer oder die Eigentümergemeinschaften. Unklar ist aber, wie weitreichend diese Norm ist. Viele Gründerzeithäuser in Wien entsprechen nicht dem Stand der Technik, weil etwa Fensterhöhen ungenügend sind. Das würde teure Adaptierungen nach sich ziehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2016)

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