Wanted: Für jedes Szenario gibt es einen Plan

Den Wirtschaftsanwälten schlägt mit dem Brexit eine gute Stunde.
Den Wirtschaftsanwälten schlägt mit dem Brexit eine gute Stunde.(c) APA/AFP/BEN STANSALL
  • Drucken

Brexit: Wirtschaftsanwälte sind mögliche Profiteure eines Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU. Ihre Klienten sind verunsichert und brauchen deshalb besonders intensive Beratung.

Wien. Für Banken, Unternehmen und Investoren bringt der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union vor allem eines: Unsicherheit. Für Wirtschaftskanzleien auch noch etwas anderes: viel neues Geschäft.

Und die Gunst der Stunde wollte und will sich keine Sozietät entgehen lassen. Sie haben sich im Vorfeld auf das Brexit-Szenario vorbereitet. Schon wenige Stunden nach Bekanntwerden des Ergebnisses luden internationale Kanzleien wie etwa Hogan Lovells, CMS, Allen & Overy, White & Case und viele andere ihre Klienten zu ersten Briefings und versendeten E-Mails, in denen sie ihre Kunden aufmerksam machten, welche Probleme nun auf sie zukämen. Die Message hinter dem anwaltlichen Engagement: „Ohne Rechtsberatung sollten Sie jetzt besser gar nichts tun!“

Mandanten, die aufgrund des Nein-Votums mit sofortiger Wirkung die Nerven verloren, konnten sich sogar über eigens eingerichtete 24-Stunden-Hotline-Nummern auch am Wochenende rund um die Uhr mit ihrer Lawfirm in Verbindung setzen.

Bei der Wirtschaftskanzlei Freshfields, die ihre Headquarters in London hat, sind ebenfalls unzählige Anfragen eingetrudelt: „Wir sehen, dass sehr viele unserer Klienten seit vergangenem Freitag eine sehr detaillierte Szenarienanalyse durchführen möchten. Sie wollen eine mehrgleisige Strategie entwerfen und auch einen Plan B, C und D haben, damit sie mit jeder Situation gut umgehen können“, sagt Florian Klimscha, Finanz- und Bankrechtsexperte bei Freshfields Wien.

Die Unsicherheit ist also groß. Doch welche Bereiche des Geschäftslebens werden vor allem von dem nahenden Austritt des Königreichs betroffen sein? Ein Überblick, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

▷ Übernahmen und M&A-Transaktionen: „Die Unsicherheit über den Ausgang des Brexit-Referendums führte schon im ersten Halbjahr 2016 dazu, dass eine Reihe von grenzüberschreitenden Transaktionen ,on hold‘ ging“, sagt Schönherr-Partner Christian Herbst. Die Unsicherheit auf den Märkten wird sich welt- und europaweit jedenfalls in den nächsten Monaten fortsetzen. Das sei für grenzüberschreitende M&A kein ideales Umfeld, insbesondere nicht für großvolumige Transaktionen, so Herbst. Auf den nationalen österreichischen Beratungsmarkt im Bereich M&A werde sich der Brexit-Entscheid wohl nur beschränkt auswirken. Hier stehen nach wie vor Umstrukturierungen und die Konsolidierung des österreichischen Bankensektors im Fokus sowie Transaktionen im Bereich Immobilien und generell solche, die von Restrukturierungsüberlegungen getrieben sind.

Besonders vom Brexit betroffen sieht Herbst Private-Equity-Deals: „Die Finanzierung bei Private-Equity-Deals ist in der Regel über London strukturiert; die steuerlich optimierten Modelle laufen meist über mehrere europäische Länder. Hier wird es hohen Beratungsbedarf und – zumindest mittelfristig – Anpassungen für bestehende Strukturen und Neutransaktionen geben.“

▷ Im Bereich des Gesellschaftsrechts kann der Brexit unter anderem bei der Wahl der Rechtsform einer Gesellschaft und der Planung von Umstrukturierungen eine Rolle spielen. Man denke an die Europäische Aktiengesellschaft, SE, die auf einer EU-Verordnung beruht. Wird der Brexit wirksam, können SEs mit Sitz in Großbritannien ihre rechtliche Grundlage verlieren. Eine Umwandlung in eine britische Rechtsform wäre dann zwingend nötig. Bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen und Spaltungen fällt mit dem Austritt des Königreichs die Möglichkeit weg, eine britische Gesellschaft einzubeziehen. Und während es heute aufgrund der Niederlassungsfreiheit möglich ist, den Verwaltungssitz einer Britischen Limited (Ltd.) in ein EU–Land zu verlegen, gibt es diese Möglichkeit nach dem Austritt nicht mehr.

▷ Finanzwirtschaft: Weil mit einem Brexit Kreditinstitute und Wertpapierunternehmen aus Großbritannien ihr „Passport“ verlieren, könnten sie grundsätzlich nicht mehr in EU-Staaten tätig werden. Viele amerikanische (Investment-)Banken, die bisher über London den EU-Markt bedient haben, müssten alsbald ihren Standort nach Frankfurt oder Paris verlegen.

Noch etwas: Ein Wertpapierprospekt, den die zuständige britische Behörde gebilligt hat, ist künftig nicht mehr für eine Börsenzulassung oder ein öffentliches Angebot des jeweiligen Wertpapiers in der EU geeignet.

▷ Fusionskontrolle: Diese würde künftig auch bürokratischer ablaufen. Transaktionen, die sowohl die Schwellenwerte der EU-Fusionskontrollverordnung als auch jene des britischen Rechts überschreiten, müssen zweimal angemeldet werden: einmal bei der EU-Kommission und noch einmal bei der britischen Kartellbehörde.

▷ Kapitalmarktrecht: Nach dem Brexit fällt der Finanzplatz London gänzlich aus dem europäischen Regel- und Aufsichtssystem heraus. Die Harmonisierungsbestrebungen der vergangenen 20 Jahre könnten damit hinfällig werden. Jedenfalls würde EU-Recht, wie die in wenigen Tagen in Kraft tretende EU-Marktmissbrauchsverordnung, nicht mehr gelten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.