Biomedizin: „Eine billige Medizin für Millionen"

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Wiener Forscher haben den rätselhaften Zusammenhang zwischen Mangelernährung und chronischen Darmentzündungen geklärt. Das könnte die Basis für eine neue Behandlungsmethode sein.

Menschen mit mangelhafter Ernährung - das sind auf der Welt rund eine Milliarde - leiden häufig auch an Störungen des Immunsystems, an Durchfall und an chronischen Darmentzündungen. Die Symptome ähneln jenen von Pellagra, einer altbekannten Krankheit, die von einem Mangel des B-Vitamins Niacin ausgelöst wird.
Dass Darmentzündungen etwas mit einem Eiweißmangel zu tun haben, ist bekannt. Doch man wusste nicht genau, was bei diesen Störungen im Körper geschieht. Eine Forschergruppe am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der ÖAW hat nun einen Mechanismus entdeckt, der die chronischen Darmentzündungen erklärt und vielleicht auch einen neuen Weg zur Behandlung eröffnet. Dieser Entdeckung wird in der Forscher-Community große Bedeutung zuerkannt: Die Studie schaffte es auf das Cover der aktuellen Ausgabe der renommierten Wissenschaftszeitschrift „Nature" (487, S. 477).

Dabei war die Entdeckung eigentlich ein Zufall:

IMBA-Direktor Josef Penninger forscht seit zehn Jahren an dem Enzym ACE2, einem wichtigen Regulator des „Renin-Angiotensin-Systems", das u. a. für die Steuerung des Blutdrucks zuständig ist. ACE2 erwies sich mit der Zeit als wahrer Tausendsassa: Das Molekül spielt neben der Wirkung bei Herzerkrankungen auch bei akutem Lungenversagen oder bei SARS-Infektionen eine Schlüsselrolle. Nun wurde eine weitere Wirkung entdeckt, die davon völlig unabhängig ist: „ACE2 ist absolut essenziell dafür, dass Aminosäuren aus dem Darm in das Blut aufgenommen werden können", erläutert Penninger der „Presse".

Beeinflussung der Darmbakterien

Aufgefallen ist das den Forschern bei Mäusen, bei denen ACE2 ausgeschaltet wurde („Knock-out-Mäuse"): Diese entwickelten Pellagra-artige Symptome, sie waren anfälliger für Darmentzündungen. Man vermutete, dass ein Aminosäuremangel dafür verantwortlich ist - und fand den „Schuldigen" in Tryptophan: Bei ACE2-Knock-out-Mäusen wurden keine Aminosäuren in das Blut aufgenommen. Die Symptome glichen denen von gesunden Mäusen, die mit einer Tryptophan-armen Diät gefüttert wurden.
In aufwendiger Detailarbeit entschlüsselten Tatsuo Hashimoto und Thomas Perlot aus Penningers Arbeitsgruppe nun den Mechanismus - eine ganze Wirkungskette: Tryptophan ist notwendig, damit in der Darmschleimhaut sogenannte Defensine gebildet werden. Das sind Proteine, die wie natürliche Antibiotika wirken und manche Bakterienarten bekämpfen. Durch ihre Wirkung verändert sich die Zusammensetzung der Darmflora. Bei ACE2-Knock-out-Mäusen traten ganz andere Bakterienstämme auf als bei gesunden Mäusen - das wurde durch Genanalysen der Darmflora gezeigt.


Nun kommt der entscheidende Punkt: Die veränderte Darmflora beeinflusst die Anfälligkeit für Darmentzündungen. Das konnte bewiesen werden, indem man sterilen Mäusen die Darmflora von ACE2-Knock-out-Mäusen einpflanzte: Diese Mäuse entwickelten Durchfälle und chronische Darmentzündungen.
Ein Tryptophan-reiches Futter verringerte die Unterschiede zwischen den Darmfloren gesunder und kranker Mäuse. Zudem führte eine vermehrte Gabe der Aminosäure dazu, dass sich die Darmflora von Tieren mit schweren Darmentzündungen normalisierte, die Entzündungen zurückgingen und auch die Anfälligkeit für eine neuerliche Darmentzündung sank. Es gibt viele Hinweise, dass das beim Menschen ähnlich funktioniert. So kann etwa die Hartnup-Krankheit - bei der ein Tryptophan-Transporter mutiert ist, was sich in Nerven- und Darmstörungen äußert - durch Nicotinamid behandelt werden. Diese Substanz ist chemisch eng verwandt mit Tryptophan.

Darauf stützen die Forscher ihre Hoffnungen: „Menschen, die an chronischen Darmentzündungen leiden, könnte man mit diesem neuen Therapieansatz möglicherweise helfen," sagt Penninger. Das muss nun in klinischen Studien getestet werden. Denkbar ist, dass man durch eine spezielle Diät bzw. die Zufuhr bestimmter Nahrungsbestandteile die Anfälligkeit für Darmentzündungen verringern kann. Penninger: „Das wäre eine billige Medizin für Millionen von Menschen." Allein in Österreich leiden 80.000 Menschen an chronischen Darmentzündungen. Nebenwirkungen durch die verstärkte Zufuhr einer ohnehin in der Nahrung vorkommenden Aminosäure wären jedenfalls kaum zu befürchten.

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