Ist Beowulf klarer als Shakespeare?

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Britische Mathematiker prüfen klassische Heldenepen mit Netzwerkanalysen indirekt auf ihren Realitätsgehalt und vergleichen ihn mit dem von Dichtungen.

Hwæt! Wé Gárdena . . .“ „Hört! Denkwürd'ger Taten . . .“ So beginnt das größte angelsächsische Epos, in dem seit dem achten Jahrhundert von den Taten des Beowulf erst zu hören und später auch zu lesen war: Der Held ist ein Krieger, der zunächst den König von Dänemark von einem menschenfressenden Monster befreit und später, nun selbst König, in einen Kampf mit einem feuerspeienden Drachen zieht, den beide nicht überleben. So ähnlich sind viele Heldenlieder gebaut, die Ilias etwa oder das irische Táin Bó Cuailnge aus dem 14. Jahrhundert, dessen Held Cú Chulainn erstaunliche Ähnlichkeit mit Achill hat: Auch Cú Chulainn ist teils göttlicher Abstammung, auch er hat als Kind schon übermenschliche Kräfte, auch er findet einen frühen Tod.

Aber was ist dran an den alten mären, in denen so wunders vil geseit wird? Dafür sind bisher Historiker und Philologen zuständig, sie halten die Ilias und Beowulf für weithin authentisch, den Cú Chulainn hingegen für freie Erfindung. Das bestätigte bisher, als geduldete Hilfswissenschaft, die Archäologie, sie fand für Ilias und Beowulf Belege, beim Cú Chulainn nur dünne Spuren. Aber nun mischt sich noch eine Wissenschaft ein, sie nennt sich „Soziophysik“ und arbeitet mit dem „Werkzeug der statistischen Physik“. So charakterisiert Ralph Kenna, was er mit seinem Kollegen Pádraig Mac Carron vom Applied Mathematics Research Center der Coventry University unternommen und auf arXiv:1205.4324v2 publiziert hat.

Was das mit Physik zu tun hat, ist unerfindlich, es ist Mathematik/Statistik und wendet auf die alten Mären an, was man an den allerneusten ausprobiert hat: Die Analyse von sozialen Netzwerken wie etwa dem von Facebook. Sie zeigt, wer wie mit wem kommuniziert und wo besonders wichtige Knoten sind, die nicht ausfallen dürfen, weil sonst das ganze Netz zerfällt. Heraus kommt also ein Prototyp sozialer Kommunikation. Auf ihn haben die Forscher die drei Epen getestet und, zur Kontrolle, frei Erdichtetes, von Shakespeares „Heinrich III.“ bis zum „Herrn der Ringe“ und „Harry Potter“.

Ilias und Beowulf: Interaktionen wie heute

Also wurden mit Computerhilfe die handelnden Personen erfasst – 74 im Beowulf, 404 im Táin, 716 in der Ilias –, dann wurden ihre Kommunikationsmuster mit denen der Internetgemeinde verglichen: Die Netzwerke in der Ilias und im Beowulf stimmen mit den heutigen überein, die im Táin mit Abstrichen: „Zu einzelnen Ereignissen können wir nichts sagen“, erklärt Carron: „Wir behaupten nicht, dass dieses oder jenes wirklich passiert ist oder dass es die porträtierten Individuen wirklich gegeben hat; wir sagen nur, dass die Gesellschaft insgesamt und die Interaktionen zwischen den Akteuren realistisch aussehen.“

Ganz anders ist es in den Kontrolltexten, sie sind Konstruktionen durch und durch, die mit der Lebenswelt nichts zu tun haben. Eine britische Zeitung fasste alles bündig zusammen: „Beowulf und Ilias sind plausibler als Shakespeare.“ Aber dieser Zuspitzung hätte es nicht bedurft, um die Platzhirsche zu wecken, die ihr Monopol auf die Deutung der Vergangenheit gefährdet sehen. Am weitesten ging ein Journalist, John Sutherland, im Guardian: Für ihn gehören Kenna und Carron an die „University of Disney“, sie mögen sich gefälligst an ihre mathematisch-physikalischen Leisten halten. Schließlich habe schon Aristoteles in der „Poetik“ den Unterschied zwischen Epik und Tragödie gezeigt: Erstere, also etwa Beowulf, sei eine Beschreibung von Dingen, die einfach passieren, und damit per se realistisch. Letztere, also „Heinrich III.“, sei per se eine auf ein Ende hin gebaute Geschichte.

Kenna replizierte, Sutherland zelebriere nichts als „Ignoranz“, und die Anwendung von Netzwerkanalysen auf alte Texte biete einen völlig neuen Zugang zur Vergangenheit. Das mag sein, ein wenig flach ist der erste Anlauf der „Soziophysik“ aber doch ausgefallen, ein Heldenlied ist das noch nicht.

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