Weniger Nachkommen? Europa stirbt doch nicht aus!

Weniger Nachkommen Europa stirbt
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John Bongaarts und Tomáš Sobotka, ein Tscheche, der am Institut für Demografie der ÖAW forscht, haben herausgefunden, dass sich die Geburtenraten seit 1960 nicht wirklich verändert haben.

Bei einem schnellen Blick auf die Statistik ist die Sache eigentlich klar – glaubt man zumindest: Zwischen 1960 und 1998 ist in Europa die Zahl der geborenen Kinder pro Frau von 2,6 auf 1,37 gefallen. Im Schnitt halbierte sich also die Geburtenrate. Klar, denkt man sich: Es gibt immer weniger Großfamilien, Frauen verfolgen öfter eigene Karriereziele, als sich wie früher zu „Gebärmaschinen“ degradieren zu lassen, die Zahl der Singles steigt stark an.

Wegen diesen Entwicklungen befürchtete man, dass Europa langfristig ausstirbt – denn laut Adam Riese ist eine Zahl von etwas über zwei Nachkommen pro Frau notwendig, damit die Bevölkerung stabil bleibt (wenn man die Migration außer Acht lässt).


Trendumkehr. Wenn man in der Statistik weitergeht, dann kehrt sich der Trend plötzlich um: Von 1998 bis 2008 ist die Geburtenrate auf 1,56 Kinder pro Frau angestiegen! Dieser Befund ließ viele jubeln – Europa stirbt also doch nicht so schnell aus! Allerdings: Niemand konnte sich den Anstieg der Geburtenrate erklären. Denn von all den Faktoren, mit denen die zuvor sinkende Kinderzahl erklärt wurde, ist kein einziger verschwunden.

Einen Ausweg aus diesem Erklärungsnotstand haben nun zwei Demografen vorgeschlagen: John Bongaarts, ein Holländer, der in den USA beim Population Council arbeitet, und Tomáš Sobotka, ein Tscheche, der am Institut für Demografie der ÖAW forscht, haben herausgefunden, dass sich die Geburtenraten seit 1960 nicht wirklich verändert haben. Das erscheint nur wegen der verwendeten Messmethode so. Konkret: Der jüngste Anstieg der Geburtenrate ist größtenteils ein rein statistischer Effekt – genauso wie auch die Abnahme der Geburtenraten in den Jahrzehnten zuvor (Population and Development Review 38, 1: 83).

Wie kann das sein? Herkömmlicherweise wird die Geburtenrate mit einer Maßzahl namens TFR („Total Fertility Rate“) berechnet. Dabei werden die Fruchtbarkeitsziffern (Kinder pro Frau in einem bestimmten Alter) für alle Altersstufen summiert. Das ist einfach zu berechnen – aber die Sache hat einen Haken: TFR wird systematisch durch zwei Faktoren verzerrt.


Ältere Mütter.
Erstens durch den sogenannten „Tempoeffekt“: In einem Zeitraum, in dem das Alter der Frauen bei der Geburt steigt, kommen statistisch gesehen weniger Kinder auf die Welt. Oder anders formuliert: Die berechneten Geburtenraten sinken, wenn ältere Jahrgänge ihre Kinder bereits bekommen haben und jüngere Jahrgänge mit der Familiengründung noch warten. Das gilt auch dann, wenn die Frauen in ihrem gesamten Leben nicht weniger Kinder bekommen als die vorangegangenen Jahrgänge.

Genau das passiert seit vier Jahrzehnten: Das Alter der Mütter bei ihrer ersten Geburt steigt deutlich an (siehe Grafik). Das hat auch weitreichende medizinische Konsequenzen, weil mit zunehmendem Alter mehr Probleme bei der Schwangerschaft auftreten (siehe Seite 33).

Die zweite Verzerrung der Geburtenrate kommt vom „Paritätseffekt“: Dieser berücksichtigt, wie viele Frauen bereits ein erstes, zweites oder drittes Kind geboren haben. Dadurch wird beziffert, wie viele Frauen noch ein weiteres Kind bekommen könnten.

Bongaarts und Sobotka – Letzterer ist Träger eines der begehrten Preise des Europäischen Forschungsrates (ERC Starting Grant) – haben eine korrigierte Geburtenrate namens „TFRp*“ definiert und die Entwicklung in einigen europäischen Ländern neu analysiert. Ihr Schluss: Die Zahl der Kinder pro Frau blieb eigentlich unverändert. Bis 1998 ist das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt stark gestiegen, daher ist die Geburtenrate in der herkömmlichen Statistik scheinbar gesunken. Im letzten Jahrzehnt hat sich der Trend, dass die Mütter bei der Geburt immer älter werden, aber abgeschwächt – und das hat sich in steigenden Geburtenraten niedergeschlagen.

(c) Die Presse / HR

Die beiden Forscher erwarten, dass sich die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau in nächster Zeit bei 1,74 einpendeln wird. Das ist zwar zu wenig, damit die Bevölkerung Europas stabil bleibt. Aber dieser Wert ist deutlich ermutigender als der frühere Wert von 1,39 – bei dem die Europäer tatsächlich bald eine aussterbende Spezies gewesen wären.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2012)

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