Wenn Juckreiz ansteckt wie eine Infektionskrankheit

(c) EPA (Abdelhak Senna)
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Wer einen anderen sieht, der sich kratzt, tut es oft auch. Besonders oft tut es, wer „neurotizistisch“ ist, offen für Ängste.

Nicht nur Infektionskrankheiten sind ansteckend, auch Verhalten kann es sein: Lachen pflanzt sich fort, Gähnen auch. Und wenn einer sich kratzt, dann spüren andere den Reiz schon, wenn sie nur nur das Wort vernehmen: „Juckreiz“. Das ist „ein unangenehmes Gefühl, das den Wunsch oder den Reflex auslöst, sich zu kratzen“. So beschrieb es vor 350 Jahren Samuel Hafenreffer, so definiert man es noch, so trug es Uwe Gieler, Dermatologe der Uni Gießen, anno 2000 einem Auditorium vor, das in eine TV-Show gekommen war. Dazu zeigte er Dias von Menschen, die sich kratzen, er flocht auch das Wort „Juckreiz“ oft in die Rede ein.

Immer dann wurde das Publikum unruhig, viele kratzten sich. Die TV-Kameras dokumentierten es, dafür waren sie da, die Show war fingiert (die Gäste wurden hinterher aufgeklärt): Bei allen Besuchern – man hatte Menschen mit und ohne juckende Hautkrankheiten eingeladen – erhöhte sich die Kratzrate, und das, obwohl sie schon vor Beginn des Vortrags hoch war, offenbar spielt nicht nur der Anblick mit und das Hören des Reizworts, sondern schon die Erwartung, dass es fallen wird.

Das spricht gegen die verbreitete Hypothese, der ansteckende Juckreiz laufe über Spiegelneuronen. Das sind Hirnzellen, die auf wahrgenommene Bewegungen anderer exakt so reagieren wie auf eigene geplante, sie werden bei optischen Wahrnehmungen aktiv. Die Wirkung des Worts können sie nicht erklären, sie muss anderswo liegen.

Wo ist unklar, eine Spur hat Henning Holle (Hull) gefunden (Pnas, 12. 11): Er präsentierte Probanden Fotos von Menschen, die sich entweder kratzen oder ein Pflaster aufkleben. Zugleich machte er die Vorgänge im Gehirn sichtbar. Dort zeigte sich beim psychisch ausgelösten Kratzen die gleiche „Juckreiz-Matrix“, die man aus Tests kennt, bei denen die Haut mit Chemikalien gereizt wird: Es sind viele Hirnareale beteiligt, vor allem die Insula ist es, in ihr wird auch Schmerz verarbeitet, und Juckreiz kann böse schmerzen. In milderen Formen ist er einfach nur lästig, beim ansteckenden Juckreiz ist es so. Der löst in dem, der sich ansteckt, auch nicht das aus, was beobachteter Schmerz auslöst, Mitgefühl, Empathie. Die Ansteckung muss andere Wege gehen, sie hängt mit der generellen Einstellung zur Umwelt zusammen: Wer sich besonders leicht ansteckt, hat eine „neurotizistische“ Persönlichkeit, die besonders empfänglich für Ängste und Stress ist.  jl

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2012)

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