Chinas kleine Kaiser, eine verwöhnte Generation

(c) AP (Lee Jin man)
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Die vor über 30 Jahren verordnete Ein-Kind-Politik hat das Bevölkerungswachstum gebremst, der Gesellschaft aber auch viele Probleme gebracht: Die herangewachsenen Einzelkinder zeigen Charakterdefizite.

Wenn man Festlandchinesen fragt, ob morgen die Sonne vom Himmel strahlen wird oder düstere Wolken dräuen, dann hängt die Antwort vom Alter der Befragten ab: Sind sie 32 und jünger, sehen sie weniger optimistisch in die Zukunft. Das ist eine der harmloseren Folgen eines der gigantischen Sozialexperimente, die in China seit Mao Tse-tung ohne Ende unternommen wurden: Vier Milliarden Chinesen werde es in hundert Jahren geben, prognostizierte Anfang der 1970er-Jahre Song Jian, ein Kybernetiker, der beim Militär arbeitete (zivile Forscher, Demografen etwa, gab es nicht mehr, dafür hatte ein früheres Sozialexperiment gesorgt: die Kulturrevolution). Daraufhin vollzog Mao, der stets große Familien bevorzugt hatte, einen Schwenk, ausnahmsweise einen milden: „Später, länger, weniger!“ Die Parole legte jungen Menschen nahe, sich mit dem Heiraten Zeit zu lassen und zwischen dem Zeugen Pausen einzulegen.

Überalterung und Männerüberschuss

Es funktionierte ein Stück weit, die Geburtenrate fiel von 5,5 pro Frau 1970 auf 2,7 1979. Aber Maos Nachfolger, Deng Xiaoping, war das nicht genug, er verordnete 1979 die „Ein-Kind-Familie“. Offiziell wurde diese ein so großer Erfolg, dass China auf der Weltklimakonferenz 2009 in Kopenhagen 400 Millionen vermiedene Geburten unter „Umweltschutz“ verbuchte. Diese Zahl ist allerdings umstritten, und ob der unterbliebene Kindersegen wirklich ein Segen war, geriet zunehmend in Zweifel: Bei ihrer Einführung war die Ein-Kind-Familie auf 30 Jahre angelegt, dann werde man sehen. Als die Frist verstrichen war, meldeten sich die wieder erstarkten Demografen zu Wort und forderten ein Ende dieser Familienplanung. Denn sie hatte zwei böse Effekte: Das Land überaltert so stark, dass mancherorts Schulen in Altersheime umgewandelt werden.

Und unter den heiratswilligen Männern wächst die Konkurrenz um die raren Frauen. Wenn es nach der Natur geht, werden etwa gleich viele Burschen und Mädchen geboren – es sind aus unbekannten Gründen weltweit etwas mehr Burschen, 107 kommen auf 100 Mädchen –, aber in vielen Ländern geht es nicht nach der Natur. Sondern nach Kulturen, die männlichen Nachwuchs bevorzugen und weiblichen töten bzw. abtreiben. Ganz Südostasien gehört dazu, und in China wurde auf dem Land nicht so genau hingesehen, wenn kleine Mädchen vor oder nach der Geburt verschwanden (oder den Behörden nicht gemeldet wurden). Die Partei steuerte gegen – war das (erste) Kind ein Mädchen, hatten die Eltern einen zweiten Versuch frei –, aber das half nur partiell: Anno 2001 kamen auf hundert neugeborene Mädchen 117 Burschen, regional gar 130.

Das bereitete den Fachleuten Sorge. Aber die Generation, die da seit 1979 heranwächst, ist nicht nur durch ihre Demografie, sondern auch durch ihr Verhalten aufgefallen: Selbstsüchtig und verwöhnt seien diese Einzelkinder, klagten chinesische Medien immer häufiger. Und immer härter: Erst hießen die Neuankömmling „kleine Kaiser“, inzwischen nennt sie „China Daily“ schon „spoiled generation“, es heißt „verwöhnt“, aber auch „versaut“. Aber stimmt es überhaupt, oder ist es nur ein gern gepflegtes Stereotyp der Älteren? Es ist schwer zu prüfen, man kann nicht innerhalb der Altersgruppen vergleichen, da eben alle Kinder Einzelkinder waren bzw. sind.

Deshalb hat Lisa Cameron (Monash University, Australien) aushilfsweise auf Kohorten zurückgegriffen, die entweder vor oder nach 1979 geboren wurden (Science, 10. 1.). Es gab vier Gruppen (Geburtsjahrgänge 1975, 1978, 1980, 1883), und sie wurden nicht nur auf ihren mehr oder weniger sonnigen Blick in die Zukunft befragt.

Mangelndes Vertrauen und Pflichtgefühl

Sondern auf sie wurde die ganze Batterie der Spiele losgelassen, die Psychologen und Ökonomen ersonnen haben, etwa das Vertrauensspiel: Dabei erhält Teilnehmer A Geld vom Spielleiter, er kann der Person B etwas abgeben – nach freier Wahl –, der Spielleiter verdreifacht diese Summe, und davon kann B zurückgeben. So misst man Vertrauen. Und die Mitglieder der „spoiled generation“ zeigten deutlich weniger, im Gegenzug scheuten sie eher Risken und Konkurrenz, und mit ihrer Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit war es auch nicht weit her. Mit dem Eigennutz schon. „Die Ein-Kind-Politik hat deutliche Folgen für die chinesische Gesellschaft“, schließt Cameron.

Aber woher kommt das, liegt es daran, dass die Kinder Einzelkinder sind? Studien in westlichen Gesellschaften haben keine Unterschiede zwischen Einzelkindern und Kindern mit Geschwistern gezeigt. Aber in westlichen Gesellschaften entscheiden die Eltern, Cameron vermutet deshalb, dass der Zwang zum Einzelkind die Zuwendung der Eltern bremst. Sie will es prüfen, in Japan, wo sich Ein-Kind-Familien ohne Zwang durchgesetzt haben. In China wird sich das Problem in jedem Fall verschärfen, da die Folgegenerationen nicht nur keine Geschwister haben und wenige Cousinen/Cousins, sondern auch weniger erwachsene Bezugspersonen, Tanten und Onkel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2013)

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