Kaltes Leben im Fjord

Forscher ergründen im arktischen Meeresboden, wie Mikroorganismen an die Kälte angepasst sind und wie sie den Kohlenstoffkreislauf beeinflussen.

Wer mit der Hand in den Schnee greift und nach wenigen Sekunden die Schmerzen der Kälte spürt, kann sich schwer vorstellen, dass bei diesen Temperaturen auch Leben existiert. Doch sogar in Gletschern und anderen eisigen Flächen herrscht eine Vielfalt an Mikroorganismen. Forscher der Uni Wien haben sich auf Mikroorganismen in einem anderen kalten Boden spezialisiert: dem Meeresboden der Arktis. Einmal pro Jahr fährt ein Schiff der dänischen Kooperationspartner bei Spitzbergen hinaus, um Proben des eiskalten Meeresbodens zu sammeln.

Vier Mal waren die Wiener Mikrobiologen schon mit auf der Arktis-Expedition. Die zahlreichen Proben des Meeresbodens werden dann bei null Grad nach Wien transportiert. „Die Kühlkette darf auf der bis zu drei Tage dauernden Reise nicht unterbrochen werden“, berichtet Alexander Loy vom Department für Mikrobielle Ökologie. Denn das würde die Zusammensetzung der Mikroorganismen, die in diesen Proben hausen, völlig durcheinanderbringen.

Das Ökosystem des Meeressediments ist fragil: Versucht man etwa, die Bakterien, Einzeller und Archaea (früher auch Archaebakterien oder Urbakterien genannt) im Laborschälchen wachsen zu lassen und zu isolieren, dann überleben nur wenige Prozent der eigentlich vorhandenen Organismen. Daher nutzt man heutzutage genetische und biochemische Analysen, um die Vielfalt der kleinsten Lebewesen zu erkunden. „Doch wir wollen nicht nur wissen, welche Arten darin vorkommen. Uns ist wichtig, dass man die Funktion der einzelnen Gruppen erkennt und ihre Rolle im Ökosystem versteht“, sagt Loy.

Sein Spezialgebiet sind Bakterien, die sich auf die Verwertung von Sulfat (SO42–) spezialisiert haben (siehe Lexikon). Im Meeresboden findet man eine Vielzahl von „Sulfatreduzierern“ in Schichten, zu denen kein Sauerstoff gelangt. In den obersten Schichten leben nämlich Mikroorganismen, die den Sauerstoff des Meereswassers veratmen. Erst darunter tummeln sich jene, die Sulfat veratmen und organisches Material so abbauen, dass am Ende CO2 herauskommt. „Die sulfatreduzierenden Organismen sind für bis zu 50Prozent der Mineralisierung von Kohlenstoff verantwortlich“, sagt Loy.

Sie konkurrieren in den sauerstofffreien Böden meist mit methanproduzierenden Archaea um die Nährstoffe. Die Verfügbarkeit von Sulfat bestimmt, ob die Sulfatreduzierer die Oberhand gewinnen und damit verhindern, dass Methan, ein viel stärkeres Treibhausgas als CO2, entsteht.


Konkurrenz um Nährstoffe. Nicht nur im Meeresboden herrscht der Kampf um Nährstoffressourcen und um die Methanproduktion: Auch in jedem Einzelnen von uns konkurrieren methanogene Archaea mit sulfatreduzierenden Mikroorganismen: Sie sind ein wichtiger Teil der natürlichen Darmflora – und spielen auch bei einigen Darmerkrankungen eine Rolle. „Die Vorgänge im Darm wollen wir auch erforschen. Und unser Department hat bereits intensiv an terrestrischen Moorsystemen geforscht: Auch dort konkurrieren sulfatreduzierende Organismen mit Archaea und kontrollieren so die Methanemissionen der Moore“, sagt der Biologe.

Im soeben gestarteten FWF-Projekt von Loy soll nun „das bestuntersuchte Ökosystem der Sulfatreduzierer“, der Meeresboden, vor allem in arktischer Küstennähe, genau erforscht werden. Dort kommt viel organische Substanz durch Bodenerosion und Schmelzwasser ins Meer. Die kalten Fjorde bei Spitzbergen sollen (in enger Zusammenarbeit mit der Universität Aarhus in Dänemark) zeigen, welche Sedimentbestandteile entscheidend dafür sind, ob diese oder jene Mikroorganismen erfolgreich sind.

Die Versuche laufen in der Wiener Althanstraße in kleinen Kühlräumen ab, die Forscher müssen dort aber nicht mit Anorak und Fäustlingen arbeiten. Nur die Proben werden direkt in luftdicht abgeschlossenen Fläschchen auf null Grad Celsius gekühlt. Die Aktivität der Mikroorganismen wird regelmäßig getestet. Das gelingt über Bodennährstoffe, die mit Isotopen markiert werden, sodass man die Verstoffwechslung des Substrats in den Mikroorganismen verfolgen kann. Analysiert wird dann mit einem Spezialgerät der Uni Wien, das einzigartig in Österreich ist: dem NanoSIMS (Nano-Sekundärionen-Massenspektrometer), das exakte Isotopenanalysen mit einer sehr hohen räumlichen Auflösung möglich macht. „Der Hintergrund ist, dass die Arktis weiter schmelzen wird, was einem in Spitzbergen drastisch vor Augen geführt wird. Das führt zu einem Anstieg des Nährstoffeintrags in küstennahe marine Sedimente“, so Loy. „Wir untersuchen nun den Einfluss der unterschiedlichen Nährstoffe auf die Sulfatreduzierer und die Biogeochemie im Meeressediment.“ Das alles hat nämlich starke Auswirkungen auf das Klima.

Die Forscher wollen aber nicht globale Veränderungen prognostizieren, sondern durch den Vergleich aus einzelnen Fjorden zeigen, welche Mikroorganismen in unterschiedlichen Meeresböden in welcher Weise auf erhöhten Nährstoffeintrag reagieren.

Dies soll neue Erkenntnisse über den Kohlenstoffkreislauf der Arktis bringen. Quasi nebenbei wollen sie auch neue Gene der Sulfatreduzierer entdecken, die die Anpassungen an die Kälte und ein Leben bei null bis vier Grad ermöglichen.

Sulfatatmung

Manche Mikroorganismen besitzen die Fähigkeit, Energie aus der Reduktion von Sulfat (SO42–)zu
Sulfid (S2–)zu gewinnen – analog zur Energiegewinnung der meisten Lebewesen mithilfe von Sauerstoff.

Die Desulfurikation (Sulfatatmung) findet man bei unterschiedlichsten Arten von Bakterien und Archaeen,
die Fähigkeit dürfte daher in der Evolution mehrmals unabhängig
voneinander entstanden sein. Die Sulfatatmung ist ein wichtiger Teil des Schwefelkreislaufs in der Natur.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2013)

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