Opfertod der Bakterien – für wen?

Leonidas
Leonidas(c) AP (DIMITRI MESSINIS)
  • Drucken

Mitten in die anschwellende Debatte über „kin selection“ zwischen E.O.Wilson und Richard Dawkins kommt der Befund, dass Kolibakterien auch für Fremde sterben.

"Wanderer, kommst du nach Sparta" et cetera. So endet das Epos derer, die unter Führung des Spartanerkönigs Leonidas für das antike Griechenland in den Tod gingen, weil „das Gesetz es befahl“. Es muss ein mächtiges Gesetz gewesen sein, mächtiger als das des Lebens, das nichts anderes will als – leben, sei es in den individuellen Körpern, sei es in der Kette der Nachkommen. Jede/r lebt für sich zuerst, das ist das Gesetz der Evolution, und das der Ökonomie, sie haben frappante Parallelen, die Theorien von Adam Smith und Charles Darwin, in beiden Fällen bringt eine anonyme Instanz Ordnung in das Chaos und den Streit der Individualinteressen. Die sind und bleiben egoistisch, Altruismus ist nicht vorgesehen, schon gar nicht der äußerste: das Opfer des eigenen Lebens für andere.

Und doch ist es nicht nur an den Thermopylen geschehen, es klingt nach bis zu jeder Freiwilligen Feuerwehr, wo „einer für alle“ eintritt und „alle für einen“ es tun. Mit diesem Problem schlugen und schlagen die Ökonomen und Psychologen sich herum, ein Stück weit lässt es sich lösen: Manches, was aussieht wie Altruismus, ist in Wahrheit verdeckter Egoismus, der auf Umwegrentabilität spekuliert: Wer anderen Gutes tut, kann darauf hoffen, dass auch er in der Not Beistand erhält. Aber jede selbstlose Tat lässt sich damit nicht erklären, bei uns, und in der restlichen Natur lässt sich damit überhaupt nichts erklären am Altruismus.

Altruismus als Rechenexempel

Dort brach des Problem vor allem bei den sozialen Insekten auf: Warum verzichten im Bienenvolk alle Schwestern der Königin auf ihre eigene Reproduktion und pflegen stattdessen die Brut der einen? Vor 50 Jahren kam die Lösung, die Theorie der „kin selection“. Die steht vor allem mit zwei Namen in Verbindung, William Hamilton und E.O. Wilson, und sie bedeutete, dass das Aufopfern sich rechnen kann, wenn es um Verwandte geht: Wenn eine Bienenarbeiterin die Eier ihrer Königinnenschwester – mit der sie genetisch identisch ist – hegt und pflegt, bringt sie damit 75 Prozent ihrer eigenen Gene in die nächste Generation; würde sie sich selbst verheiraten, wären es nur 50Prozent. Allgemeiner formulierte „Hamiltons Regel“, dass dann altruistisch gehandelt wird, wenn r✕b c, wobei c der Preis des Gebenden ist („cost“), b der Gewinn des Profiteurs („benefit“) und r der Grad der Verwandtschaft („relatedness“).

Das klang – bei aller Hochachtung für Bienenhirne – immer schon reichlich konstruiert, und 50 Jahre später hat sich Wilson, der sein Leben lang soziale Insekten erforscht hat, von der Kopfgeburt abgewandt: Die höhere Einheit ist für ihn nun nicht mehr die Verwandtschaft („Kin“), sondern die Gruppe, er publizierte es erst 2008 in einem Aufsatz in Nature und nun im Buch „Die soziale Eroberung der Erde“. Familie? Gruppe? Die Differenz mag marginal erscheinen, aber sie rief in der Biologie den erbittertsten Streit seit Jahrzehnten hervor. Richard Dawkins, der die „Kin“-Spielform des Darwinismus zum Dogma erhob – und sich selbst zum Hüter der Lehre –, empfahl, man möge Wilsons Buch „mit Wucht wegschleudern“, es enthalte nur „schamlose Arroganz“ und „perverse Missverständnisse“. Zugleich lancierte Dawkins einen offenen Brief gegen Wilson, immerhin 137 Fachleute unterzeichneten.

Wilson konterte in einem „Spiegel“-Interview kühl, es hätten eben viele Evolutionsbiologen ihre Karrieren auf „Kin“ gebaut. Vielleicht ist dem so, vielleicht sitzt das geronnene „Kin“-Dogma auch einfach zu tief in den Köpfen oder auch vor den Augen. Diesen Verdacht weckt ein Befund – bzw. seine Interpretation –, den Dominik Refardt (ETH Zürich) an Kolibakterien gemacht hat. Wenn Bakterien von Bakteriophagen befallen werden – die sind für Bakterien das, was Viren für uns sind –, dann werden sie zu Zeitbomben für ihre Mitbakterien: Die Phagen lassen sich von den Bakterien vermehren, sprengen sie am Ende auf und befallen andere Bakterien. Aber befallene Bakterien können das abwenden, durch den Heldentod: Es gibt einen Mechanismus – „abortive infection system“ (AIS) –, mit dem sie sich umbringen können, und die Phagen in sich auch.

Realität zur Theorie passend gemacht

Woher kommt der Altruismus?

Dieser Mechanismus kommt bei Escherichia coli zur Anwendung, wenn die Nachbarbakterien „Kin“ sind, das bemerkte Refardt in der ersten Runde des Experiments. Aber die zweite zeigte dann, dass befallene Bakterien auch dann in den Tod gehen, wenn die Nachbarn nicht „Kin“ sind (Proc. Roy. Soc. B, 19.3.). Das wäre also ein guter Anlass, die „kin selection“ zu überdenken. Refardt zieht aber den umgekehrten Schluss, er macht das Ergebnis zur Theorie passend. Denn wie jede Regel hat auch „Hamiltons Rule“ ihre Ausnahme: „Im Extremfall, wo die Kosten des Altruismus null sind“ – weil das infizierte Bakterium ohnehin sterben würde, nur später –, „wird in Hamiltons Regel r✕b 0, sodass Altruismus bevorzugt werden kann, selbst wenn auch die Verwandtschaft null ist.“
Egoismus ist das Gesetz des Lebens: Jede/r will das Beste für sich, will überleben und sich reproduzieren. Trotzdem gibt es selbstloses Handeln, etwa den Opfertod für ein höheres Ganzes, oder – prominentes Beispiel: Bienen – den Verzicht auf die eigene Reproduktion. Darwin erwog, dass die Selektion auch an Gruppen ansetzt – ein Stamm profitiere von aufopferungsbereiten Mitgliedern –, Hamilton sah die Verwandtschaft („Kin“) am Werk. Diese Sicht teilte und verbreitete E.O.Wilson, er ist nun umgeschwenkt zur Gruppe.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.