Genetik: Der Fluch der Inzucht

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Am spanischen Zweig des Hauses Habsburg lässt sich zeigen, wie Verwandtenheirat wirkt – und wie die Natur reagiert.

El Hechizado“ nannten die Spanier ihren letzten König aus der Dynastie der Habsburger, die das Land 300 Jahre lang im Griff hatte, Karl II.: Keinem aus seiner Sippe war die Unterlippe so ins Gesicht geschrieben wie ihm, und die Lippe bzw. der vorgeschobene Unterkiefer war noch das Harmloseste, obwohl er ihretwegen kaum sprechen konnte und sabberte. Er war verwachsen und impotent, konnte erst mit vier Jahren sprechen und mit acht gehen, und mit 30 war er ein alter Mann. Neun Jahre später, anno 1700, konnte er kaum noch aufstehen, er hatte Halluzinationen und Konvulsionen, fiel ins Koma und starb.

„Tu felix Austria, nube!“

Wer oder was hatte ihn verhext? Die 300 Jahre währende Inzucht im Hause Habsburg: Politisch mag sie Erfolg gebracht haben – „Tu felix Austria, nube!“ -, für die Mitglieder der Familie, vor allem die des spanischen Zweigs, war sie mörderisch. Deshalb kann man das Phänomen nirgends so gut studieren wie an ihnen: Die Inzucht war schon unter den Pharaonen die Regel, aber von ihnen hat man zu wenig gesicherte Daten; sie wurde später auch im Hause Darwin praktiziert, das immer wieder eng mit dem Haus Wedgwood liiert war. Charles etwa heiratete eine Cousine ersten Grades – und machte sich beim frühen Tod seiner Tochter bittere Vorwürfe –, aber der Darwin/Wedgwood-Verbund war zu klein, um daraus Schlüsse ziehen zu können.

Die Habsburger hingegen hatten in ihrer 300-jährigen Regentschaft in Spanien über 20 Generationen 4000 Mitglieder. 73 Eheschließungen gab es – oft zwischen Cousins und Cousinen, auch zwischen Onkeln und Nichten, aus einer solchen Ehe stammte Karl II. –, 502 Schwangerschaften sind dokumentiert. Manche endeten in Totgeburten, und von den Kindern, die es ans Licht der Welt schafften, starben 93 im ersten Jahr und 76 in den ersten zehn Jahren. Das war damals ganz normal, aber die Kinder des Volks starben an Hunger/Krankheit. Bei Hofe gab es keinen Mangel, aber gute Ärzte, trotzdem starben viele Kinder früh, vor allem in der Zeit von 1460 bis 1600, später wurde es besser.

Dann wirkte sich aus, dass die Natur eingegriffen und die ärgsten Auswüchse der Inzucht bzw. ihre Genkombinationen hatte wegsterben lassen, als Kleinkinder. So sieht es zumindest Francisco Ceballos (Santiago de Compostela), der die Familiengeschichte der spanischen Habsburger im Detail rekonstruiert und die Grade der Inzucht mit den Sterbetafeln verglichen hat (Heredity, 10.4.). Dabei wird zunächst der „Inzuchtkoeffizient“ aus dem Verwandtschaftsgrad der Eltern berechnet: Er zeigt an, wie viele der mütterlichen und der väterlichen Gene in einem Kind identisch sind, homozygot. Und dann folgt der Blick in die Sterberegister: „Unsere Befunde unterstützen die Ansicht, dass die Folgeprobleme der Inzucht durch die Evolution weggeschafft werden“, schließt Ceballos. Die Inzucht schafft also sich selbst ein Stück weit weg, sie lässt Kinder mit schweren Inzuchtschäden früh sterben, und wer doch ins reproduktionsfähige Alter kommt, zeugt nicht viele Kinder.

Bis gar kein Kind mehr kommt – wie bei Karl II. Der hatte einen extrem hohen Inzuchtkoeffizienten – Philip I., der Gründer der Dynastie, hatte 0,025, Karl II. 0,254 –, aber er hatte Zusatzpech, denn er bekam vom Vater und der Mutter je eine Erbkrankheit. Eine sorgte für den schwachen Wuchs, die andere für den schwachen Körper. Deshalb starb er so früh, als die Notbremse der Natur die restlichen Habsburger – samt Lippe – eigentlich schon gerettet hatte.

Und die Bourbonen?

War es so? Ist es so? Ceballos Studie wurde kritisiert, weil auch eine 4000-Seelen-Familie mit 20 Generationen ein kleines Sample ist, in dem die Statistik leicht in die Irre führen kann. Aber es gibt sonst wenig gut Dokumentiertes zur Inzuchtfrage, nur die Familie Darwin/Wedgwood und die Mormonen in den USA. Auch bei ihnen erhöhte sich die Kindersterblichkeit. Aber auch da sind die Daten eher dünn. Deshalb regt Alan Bittles, Genetiker in Perth, eine Studie an Zeitgenossen an: In Südindien wird unter engen Verwandten geheiratet. Aber Ceballos geht lieber in die Archive, er wendet sich nun dem Haus Bourbon zu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2013)

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