Ökonomie: 5,1 Euro einsacken oder eine Maus retten

Moral Markte
Moral Markte (c) EPA (Everett Kennedy Brown)
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Wenn sie individuell getroffen werden, fallen manche Entscheidungen ganz anders als auf dem Markt. Auf dem kommen Bedenken leicht unter die Räder.

Die Maus wird vergast. Das Gas fließt langsam in den hermetisch abgedichteten Käfig. Es führt zu Atemstillstand. Wenn man sieht, dass die Maus nicht mehr atmet, bleibt sie noch zehn Minuten im Käfig. Dann wird sie herausgenommen.“ Wenn Sie diesen Text lesen würden und das zugehörige Video mit der sterbenden Maus sehen, und wenn Sie die Wahl hätten, eine solche Maus zu retten oder an ihrem Tod Geld zu verdienen – was würden Sie tun? Diese Frage ging in allem Realismus und aller Härte an hunderte Testpersonen an den Universitäten Bonn und Bamberg, ersonnen war die Anordnung von den Ökonomen Armin Falk (Bonn) und Nora Szech (Bamberg), sie wollten eine so alte wie umstrittene Frage klären: Kann der Markt die Moral untergraben?

„Es musste schon etwas sein, was drastisch ist“, begründet und erklärt Szech die Wahl der zum Tod verurteilten Mäuse: Sie sind Alltag in der Forschung mit Versuchsmäusen, sie sind überflüssig – etwa weil eingebaute Fremdgene sich nicht in das Genom integriert haben –, also vergast man sie. Aber zumindest ein paar hundert wurden im Lauf der Experimente der beiden Ökonomen gerettet. Im ersten ging es um die „Individualbedingung“: Testpersonen wurden vor die Wahl gestellt, entweder zehn Euro zu bekommen – und eine Maus sterben zu lassen – oder nichts zu bekommen: In dem Fall wurde für das Geld eine solche Maus gekauft und unter guten Bedingungen irgendwo untergebracht – schon in einem Käfig, aber in einem mit Gesellschaft und vielen Strukturen –, wo sie die absehbaren zwei Jahre ihres Lebens in Frieden verbringen konnte.

54,1 Prozent entschieden für die Maus, 45,9 nahmen das Geld. Dieses Bild änderte sich stark, als die Mäuse zu Markte getragen wurden: Diesmal hat nicht ein Individuum über ihr Schicksal zu entscheiden, diesmal waren es zwei (oder viele): Einer, ein Verkäufer, bekam die (Verfügung über die) Maus, er konnte sie einem Zweiten, einem Käufer abtreten, in einem Finanzrahmen von 20 Euro, am Ende verdienten beide am Tod der Maus, je nach Verhandlungsgeschick. Oder beide gingen leer aus: Der Verkäufer konnte sich – wie im ersten Experiment – auch dafür entscheiden, die Maus nicht zu verkaufen und damit in den Tod zu schicken. Oder der Käufer lehnte ein Mitspielen auf diesem Markt ab. Aber das taten wenige: 72,2 Prozent verscherbelten die Maus für zehn Euro oder weniger. Und wenn der Markt von zwei auf mehrere Spieler erweitert wurde – ähnlich wie eine Börse, wo Verkäufer Käufer suchen und umgekehrt –, wurde das Bild noch härter: 75,9 Prozent wollten vom Tod der Maus profitieren, und zwar auch dann, wenn es kaum etwas zu gewinnen gab (Science, 340, S.707).

5,1 Euro einsacken oder eine Maus retten?

Denn im Durchschnitt pendelte sich der Markt auf 5,1 Euro pro Maus ein, und viele geben es noch billiger. „Der Effekt ist drastisch, fast 80 Prozent sind bereit, ihre Maus auf dem Markt um 4,5 Euro zu verhandeln“, berichtet Szech: „In der Individualentscheidung tut das fast niemand.“ Wo liegt der Unterschied? In der Individualbedingung entscheidet eine Person, auf dem Markt sind es mindestens zwei, da wird erstens die Verantwortung geteilt und wiegt für jeden leichter, da gilt zweitens ein Teil des Interesses dem Handeln und nicht der Ware. Auf dem multilateralen Markt kann sich zudem jeder sagen, dass andere den Handel abschließen werden, wenn er es selbst nicht tut.

All das ist belanglos, wenn es um „echte“ Waren geht, das zeigte ein Kontrollexperiment: In ihm erhielten Teilnehmer Gutscheine für den Merchandising-Shop der Uni Bonn, sie konnten sie gegen T-Shirts etc. eintauschen. Oder sie, falls sie nicht Werbeflächen der Uni werden wollten, verkaufen, mit Verlust. Dabei zeigte sich kein Unterschied zwischen Individualbedingung und und Markthandeln.

Die Differenz tut sich erst dort auf, wo es neben der Ware um Moral geht und um vom Handel betroffene Dritte, seien es die Mäuse, seien es die bekannteren und lebensnaheren Beispiele von Produkten, die irgendwo auf der Erde von Kindern oder in einstürzenden Textilfabriken hergestellt werden. Viele Konsumenten lehnen das ab, aber sie kaufen doch, offenbar spielt der Markt mit, nicht nur über die Preise, sondern auch über das Aufweichen der moralischen Kriterien. Soll also manches lieber nicht auf den Markt? Das wird seit Jahren vor allem vom US-Philosophen Michael Sanders (Harvard) thematisiert, der etwa darauf hinweist, dass es für uns heute ganz selbstverständlich ist, dass manches nicht als Ware auf den Markt getragen werden darf, das Seelenheil etwa oder auch ein Mensch.

Beides musste erst mühsam von Märkten weg- bzw. freigekämpft werden: Ersteres erledigte Luther mit seinen Predigten gegen den Ablass; und über Letzteres – die Sklaverei – wurde erst im amerikanischen Bürgerkrieg entschieden, endgültig nicht, in manchen Regionen der Erde wird unter Bedingungen produziert, die denen der Sklaverei stark ähneln. „Märkte können generell eine sehr gute Institution sein“, schließt Szech: „Aber wenn Dritte zu Schaden kommen können, die gar nicht mithandeln können wie in unserem Experiment die Mäuse oder bei Kleidung die Arbeiter, die in irgendeinem Land der Erde unter Bedingungen produzieren, die wir bei uns keinesfalls akzeptieren. Dann stellt sich schon die Frage: Wollen wir diese unkontrollierten Märkte wirklich?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2013)

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