Das pralle Leben als Quelle

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Wiener Historiker sammeln seit Jahrzehnten systematisch lebensgeschichtliche Aufzeichnungen von Menschen aus Österreich und Altösterreich.

Der Tag meiner Geburt stand unter keinem guten Stern.“ Die Dame, die dies erzählt, wurde als lediges Kind geboren, damals in der Ersten Republik. Die anderen im Seminarsaal des Österreichischen Museums für Volkskunde in der Wiener Laudongasse anwesenden Personen nicken. Sie wissen Bescheid.

„Geschichte aus Lebensgeschichten“ lautet der Titel des Workshops, den der Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ in Abständen von einigen Monaten veranstaltet. Der Sozialhistoriker Michael Mitterauer, emeritierter Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Wien, liest einige Textstellen aus Maria Gremels Buch „Mit neun Jahren im Dienst“ (Verlag Böhlau, dzt. vergriffen) vor: Die Verfasserin musste als Dienstnehmerin in einem Bauernhof während ihrer Schwangerschaft als ledige Frau und auch nachher schwere Demütigungen zur Kenntnis nehmen, die auch vor dem Kirchgang nicht endeten. Mit Gremels Erlebnissen werden die im Volkskundemuseum anwesenden acht Damen – Männer sind diesmal keine gekommen – konfrontiert. Und sie lassen sich anrühren, erzählen spontan über ihre eigenen Erfahrungen als uneheliche Kinder, über die Erlebnisse, oft auch Leidensgeschichten, ihrer Mütter und über die Lebensumstände damals, vor 50, 60, 70 Jahren.

Mitterauer hat schon in den frühen 1980er Jahren sein Augenmerk auf schriftliche Lebensaufzeichnungen gerichtet und den Grundstein für eine Textsammlung von autobiographischen Manuskripten gelegt. Heute sind die schriftlichen Erinnerungen von mehr als 3000 Personen gesammelt, dazu kommt eine Fotosammlung von etwa 2500 alltagsgeschichtlich bedeutsamen Motiven. Parallel dazu wird die Dokumentationsreihe „Damit es nicht verloren geht ...“ aufgelegt. 1991 startete die Reihe, in diesem Jahr wurde bereits der 68. Band herausgebracht.


Kulturwissenschaftliche Quelle. Die damit entstandene „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ wird von Günter Müller geleitet, der vom Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte für diese Tätigkeit abgestellt wurde. Die Textsammlung beginnt mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Schwerpunkt der Aufzeichnungen liegt im Zeitraum zwischen 1890 und 1950. Also aus einer Epoche, aus der Mitterauer noch Zeitzeugen fand und die es für die Mitte des 20. Jahrhunderts auch heute gibt.

Die Dokumentationsstelle sammelt Erinnerungen älterer Personen – rund 80 Prozent kommen aus dem heutigen Österreich, die anderen aus anderen Teilen der ehemaligen Monarchie oder aus Deutschland – und wertet diese als historisch-kulturwissenschaftliche Quellen aus. Es geht um lebensgeschichtliche Reflexionen, wobei nach Möglichkeit die Betroffenen zur autobiografischen Niederschrift angeregt und dabei unterstützt werden sollen. In den meisten Fällen gelingt dies auch.


Verschwundene soziale Gruppen. Besonders wertvoll sind innerfamiliäre Aufzeichnungen, Milieubeschreibungen und Berufserfahrungen von sozialen Gruppen, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts im Rückgang begriffen sind. Müller führt hier als Beispiele etwa Mägde, Knechte, Sennerinnen oder Wanderhandwerker an. Dazu kommen noch Berichte über dominante Positionen, die etwa der Vater oder – im ländlichen Bereich – die Kirche einnahmen. Letztendlich soll mit den zum Teil publizierten Erkenntnissen der Dialog zwischen älteren und jüngeren Personen einen neuen Schwung erhalten und ein Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen initiiert werden.


Schwangerschaft als Schmach. Zum Thema uneheliche Geburten: Gerade in den Ostalpen sind diese früher als „Illegalität“ bezeichneten Geburten besonders hoch, schließt Müller aus statistischen Aufzeichnungen. In manchen Kärntner Tälern oder im Lungau liegen sie bei 70 Prozent aller Geburten. „Aber die Statistik verrät nicht die Geheimnisse des Lebens, die dahinter stehen“, sagt der Sozialhistoriker. Deswegen sind, wie eben beim Workshop im Volkskundemuseum, die Betroffenen am Wort.

Dass die Kirche in Maria Gremels Schilderung ledige Mütter diskriminiert hat, dass die Schwangerschaft als Schmach der Frau, nicht aber des betroffenen Mannes gewertet wurde, empört die Anwesenden noch heute. Die Bauernmagd Gremel, geboren 1901, erlebte dies als 18-Jährige, also 1919. Die „Schmach“ wich erst langsam von den ledig geborenen Kindern. Noch nach 1945 mussten z.B. Kinder, die einen russischen Besatzungssoldaten als Vater hatten, so manche abfällige Bemerkung hinnehmen. „In erster Linie ging es stets zu Lasten der Frau“, sagen die Zeitzeuginnen. Und in abgeschwächter Form kamen auch die Kinder dran. „In Vösendorf nannten sie einen Buben mit einem Sowjetsoldaten als Vater mit abfälligem Tonfall ,Ziegelböhm‘“, erinnert sich eine Anwesende.


Rechtliche Diskriminierung. Die moralische Diskriminierung ist die schlimme Form, dazu kommt aber auch die rechtliche. Die (fast) völlige gesetzliche Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern wurde erst im Jahr 1991 vollzogen. Eine Diskriminierung ist aber geblieben und soll erst jetzt, 2013, beseitigt werden: Kinder, die in einer Ehe geboren werden, erhalten automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft, auch wenn ein Elternteil diese nicht besitzt. Also wenn die Mutter Ausländerin und der Vater Österreicher ist. Ist bei einer unehelichen Geburt die Mutter aber eine Ausländerin und der Vater Österreicher, dann wird den Neugeborenen die Staatsbürgerschaft nicht zuerkannt. Diese unterschiedliche Regelung wird jetzt beseitigt.

Mitschreiben

Die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Wien betreibt auch die Plattform www.MenschenSchreibenGeschichte.at, die sich an alle richtet, die sich ernsthaft mit der biografischen Erinnerungsarbeit beschäftigen. Der Dokumentationsbestand im Internet umfasst derzeit Aufzeichnungen von rund 2200 Personen. Ausgewählte Texte aus der Sammlung werden laufend in der Editionsreihe „Damit es nicht
verloren geht...“ im Verlag Böhlau veröffentlicht.

Michael Mitterauer, der Initiator des Langzeitprojektes, beschäftigt sich zur Zeit mit Forschungsthemen wie den Traditionen der Namensgebung oder der Verwandtenheirat – letztere ist auch der Kern seines jüngsten Buchs „Historische Verwandtschaftsforschung“ (248 S., 39 €, Böhlau).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2013)

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