Intuitive Bewertung hält objektiven Daten stand

Die emotionale Einschätzung von Stadtgrätzeln ist ein gutes Maß für die Kriminalitätsrate in einem Bezirk.

Der erste Eindruck zählt. Dieser Satz gilt nicht nur für zwischenmenschliche Beziehungen. Er gilt offenbar auch dafür, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen – auch da ist die spontane (subjektive) Einschätzung ein guter Gradmesser. Zu diesem Schluss kam eine Forschergruppe am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT): Versuchspersonen wurden paarweise Fotos von Straßenzügen gezeigt, sie wurden gefragt, ob einer der Orte sicherer aussehe, welcher Ort wohlhabender („upper class“) und welcher Ort einzigartig sei.

Die insgesamt 4136 Fotos stammten von je zwei Städten in den USA (Boston, New York) und aus Österreich (Salzburg, Linz). Letztere kamen von Katja Schechtner, einer österreichischen Mobilitätsforscherin, die bis vor Kurzem am Austrian Institute of Technology (AIT) gearbeitet hat und seit zwei Jahren zusätzlich am MIT tätig ist. (Den Job am AIT hat sie mittlerweile gegen einen bei der Asian Development Bank eingetauscht; am MIT arbeitet sie weiterhin, dem AIT steht sie beratend zur Seite.) In der Versuchsreihe sahen über das Internet 7872 Personen 208.738 Fotopaare. Deren Einschätzungen wurden in ein Punktesystem von eins bis zehn umgerechnet und in Stadtpläne eingezeichnet. Schließlich wurden diese „emotionalen Karten“ mit objektiven Kriterien, etwa der Anzahl der Morde in den Stadtteilen, verglichen.

Die Ergebnisse sind verblüffend: Die subjektiven Einschätzungen der Studienteilnehmer stimmten – in aggregierter Form – sehr gut mit den lokalen Kriminalitätsraten überein. Die Emotionskarten zeichnen zudem sehr genau die Übergänge zwischen „guten“ und „schlechten“ Grätzeln nach – diese Übergänge sind übrigens, wie zu erwarten war, in österreichischen Städten viel sanfter als in den USA (Plos ONE 24. 7.).

„Wir konnten nachweisen, dass Menschen in der Lage sind, sehr komplexe Evaluierungen zu Stadtgrätzeln nur auf Basis von Fotos intuitiv zu erstellen, die im Vergleich mit objektiven Daten-Sets halten“, fasst Schechtner zusammen. Das ist für Stadtplaner eine gut Nachricht, denn das Erheben von „harten Daten“ ist immer mühsam und teuer. Durch die Einbindung viele Menschen über das Internet geht das offenbar einfacher.

Beweisen konnten die Forscher auch die „Broken-Window-Theorie“, laut der „Unordnung“ im urbanen Raum (Müll oder Graffiti) eine Steigerung der Kriminalitätsrate nach sich ziehe. Diese Theorie war für den früheren New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani die Grundlage seiner Null-Toleranz-Politik – für die er damals stark kritisiert wurde. Mit dem neuen Internet-Tool kann nun abgetestet werden, was die besten Maßnahmen sind, um ein Grätzel mit geringen Kosten zu verändern – etwa Müll wegzuräumen oder eine Straße neu zu asphaltieren. Die MIT-Forscher haben das Experiment zudem erweitert: unter http://pulse.media.mit.edu/experiments/ kann jedermann Bewertungen für 56 Städte weltweit abgeben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2013)

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