Georg Grabherr: "Regeln sind für die Natur Gift"

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Warum Naturschutz ein Problem hat, welche »Bomben« sich in aktuellen Forschungsergebnissen verstecken und wo sich überall Wildnis findet, erklärt Georg Grabherr, der heurige Wissenschaftler des Jahres.

Man hat den Eindruck, dass das Thema Naturschutz in den Hintergrund gerückt ist: hinter den Umweltschutz, und vor allem hinter das dominierende Klimathema.

Georg Grabherr: Ja. Es gibt einen Mechanismus, der daran schuld ist: Es ist das Gefühl, dass man ohnehin nichts machen kann. Das Klima wandelt sich, es wird sich alles verändern, nichts ist stabil. Warum soll man sich für etwas einsetzen, das sich ohnehin verändert? Diese Denkstruktur führt dazu, dass man es ein bisschen treiben lässt. Auch beim Klimawandel kennen sich die Leute nicht recht aus: Die einen sagen das, die anderen etwas anderes. In dieser Situation sind die Leute ratlos und neigen zu einem Biedermeier.

Was denkt man innerhalb der Forschung derzeit über Naturschutz?

Wir entdecken ständig neue Sachen. In den 1970er-Jahren haben wir begonnen, Ökosystemforschung zu betreiben. Wir haben – vom Regenwald bis zur Tundra – den Energiedurchsatz durch die Systeme und die Nährstoffkreisläufe erforscht. Allerdings in einer sehr simplifizierten Form: Man hat nicht die Art angeschaut, sondern die funktionellen Einheiten – Produzenten, Konsumenten, Destruenten. Das Funktionieren der Natur war das zentrale Thema.

Das war ja damals auch eine völlig neue Sichtweise.

Das war faszinierend! Mit dem Ökosystemmodell kam ein gegensätzlicher Entwurf, wir wir über das komplexe Leben nachdenken können. Das war eine jungfräuliche Forschung. Man wusste erstmals, wie groß das Potenzial der Natur – etwa hinsichtlich Primärproduktion oder energetischem Wirkungsgrad – ist. Von diesem Forschungsansatz leben wir heute noch, an dem orientieren sich heute noch etliche Forschergruppen. Aber prinzipiell ist diese Sache ausgelutscht, wenn ich so sagen darf. In den 1980er-Jahren kam dann die Populationsökologie: Die hat den Fokus von dieser eher physikalisch orientierten Betrachtungsweise hin zu den Organismen verschoben. Nun gilt: Was tut die einzelne Pflanze, was tut das einzelne Tier? Welche Beziehungsnetze gibt es? Das ist im Moment die spannende Sache. Und da kommt der Naturschutz wieder zurück.

Ist die Forschung weiterhin in dieser Phase?

Im Moment ja. Und die jetzigen Erkenntnisse liefern auch richtige Bomben! Zum Beispiel, dass wir feststellen, dass die alpine Vegetation großteils klonal ist. Es scheint so, als sei die Klonalität der Schlüssel für das Überleben in extremen Umgebungen.

Was kann man sich darunter vorstellen?

Es wurde lange übersehen, dass das ewige Leben von genetischen Individuen in vielen Lebensräumen eine große Rolle spielt. Bei Pflanzen wie Loiseleuria (Gämsheide oder Alpen-Azalee; Anm.),Latsche oder Heidelbeere gibt es Klone, die sind 500 Jahre alt. Bei der Krummsegge gibt es Klone, die mehr als 5000 Jahre alt sind. Diese Pflanzen betreiben zwar auch sexuelle Vermehrung, aber die Reproduktionsrate ist sehr gering – die Samen reifen nicht aus, sie haben einen Brandpilz, und selbst wenn sie keimfähige Samen bilden, ist die Fernverbreitung gering. Stattdessen breiten sich Triebe aus. Das Keimereignis selbst war im Extrem vor 5000 Jahren. Wenn sich das junge Individuum etabliert hat, wächst es horizontal auseinander, nach 50, 60 Jahre ist der Horst so groß, dass die hinteren Teile absterben und die Pflanze als Ring auseinanderwächst. Dadurch wird dahinter wieder Platz frei, dann wachsen die Triebe auch wieder nach hinten. Es entsteht eine chaotische Struktur. Das Ganze wächst um einen Millimeter pro Jahr. Ein Meter Bewegung entspricht 1000 Jahren. Und dennoch lebt das Gebilde noch. Das nenne ich eine Bombe! Wir bekommen einen anderen Blick auf das Leben, wenn wir es in dieser Art betrachten.

Diese Erkenntnis hat offenbar eine wichtige Konsequenz für den Naturschutz...

Ja, wenn die Loiseleuria zerstört ist, dann kommt sie nicht so bald wieder. Wenn man mit dem Bagger ein Stück hochalpinen Rasen wegschiebt, dann ist dieser kaputt, seine Wiederentwicklung dauert zig Generationen.

Was sind andere wissenschaftliche „Bomben“, wie Sie es formuliert haben?

Ein andere Sache ist die Veränderung des Bestandsklimas – also die Rückwirkung der Vegetation auf ihre Lebensbedingungen. Zum Beispiel durch wärmesammelnde Wuchsformen, die sehr effizient sind: Loiseleuria bildet kleine Teppiche, die zwei Zentimeter hoch sind. Da drin misst man Temperaturen, die um 20 bis 30 Grad höher sind als an ihrem Kopf. Das ist durch die Beruhigung der Luft und durch die eingefangene Strahlungswärme bedingt. Das kann sogar zum Hitzetod führen.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus 40 Jahren Forschung an Hochgebirgspflanzen?

Das ist ein bissl die Alterseinsicht: Gesunde Pflanzen sind immer auch irgendwie kaputt. Sie werden gefressen, ein Parasit sitzt auf ihnen, sie werden von einem Jahrhundertfrost geschädigt, ein schädlicher Pilz macht sie kaputt, sie verlieren alle Blätter, sie sterben ab. Und trotzdem treiben sie im nächsten Jahr wieder aus! Die Pflanzen müssen sich also regenerieren können. Und das ist in meinen Augen einer der ganz wichtigen Punkte: Durch die Populationsökologie, die uns einen Blick auf die einzelne Pflanze ermöglicht, erkennen wir, dass Pflanzen modular aufgebaut sind. Die Teile wiederholen sich auf der Pflanze – und wenn ein Teil abgebissen wird, dann wird ein Hormonstrom blockiert und die Pflanze treibt erneut aus.

Ist das eine Art Redundanz, die den Pflanzen das Überleben ermöglicht?

Ja, eine Redundanz auf dem Organismus. Die Modularität ist der evolutive Durchbruch bei Pflanzen.

Zurück zum Naturschutz: In jüngster Zeit wurde der Begriff „Wildnis“ prominenter.

Das stimmt. Dabei gibt es zwei Aspekte: Die Wildnis als Erlebnis – und die Wildnis als Modell für die Wissenschaft. Es gibt ein starkes Bedürfnis der Menschen nach Abenteuer, nach einem Wegsein aus der Zivilisation. Ironisch gesagt: danach, einem Tiger beim Weinen zusehen zu können. Dieses Bedürfnis betrifft übrigens fast nur Tiere, niemand kümmert sich um Pflanzen, weil man die im Fernsehen nicht zeigen kann: Fernsehfilmer sagen uns immer wieder: Wenn wir Blumen zeigen, dann zappen die Leute weg, weil es ihnen langweilig wird. Als ich früher als Schulbub vom Haus weggegangen bin, bin ich barfuß durch eine Wiese gelaufen. Oder fast jedes Stadtkind hat auf einer Gstätten Fetzenfußball gespielt: Da ist Natur, Spontaneität, etwas Nichtmenschliches von außen hereingekommen. Heute haben wir uns die Umwelt so gerichtet, dass dieses Erlebnis verhindert wird. Überall wird gemäht, gesäubert, in regelmäßigen Abständen gesetzt.

Und die Wildnis als Modell für die Wissenschaft?

Wir brauchen Modelle, wie sich Natur entwickelt, wenn wir nicht eingreifen. Ohne Modelle haben wir kein Ziel und wissen nicht, was wir tun sollen.

In Russland oder den USA gibt es riesige Gebiete, wo wirklich noch Wildnis herrscht. In Europa kann man solche Gegenden hingegen an einer Hand abzählen...

Wildnis ist die Spontaneität und die Selbstregulation der Natur. Die Natur ist unheimlich trickreich, Diversität und Natur sind überall. Das kann ein Wildnisgebiet sein, aber auch Ritzen im Asphalt oder die Gruft des Stephansdoms. Es ist spannend, was da plötzlich daherkommt! Mein Lieblingsbeispiel ist Cyperus fuscus, ein Verwandter des Papyrus. Das ist eine der rarsten Pflanzen, die wir in Österreich haben. Wissen Sie, wo ich die gefunden habe? Auf dem Pflasterplatz vor dem Landhaus in Bregenz! Der Landeshauptmann geht jeden Tag über Cyperus fuscus. Mit Studenten haben wir Vegetationsaufnahmen beim Biozentrum in Wien gemacht – in den Pflasterritzen oder auf dem Dach: Es ist unglaublich, was da auf kleinstem Raum wächst!

Ist die Betonung der Wildnis auch ein Paradigmenwechsel zum bisherigen Dogma des Naturschutzes – nämlich des Bewahrens?

Dieses Bewahren fliegt uns immer um die Ohren! Es gibt klare Fälle, wo Stabilität das Ziel ist: Da schützen wir jetzt einen stabilen Zustand – oder einen, bei dem die Prozesse so langsam ablaufen, dass wir die Veränderungen nicht mitbekommen. Die Loiseleuria ist so ein Fall. Es gibt aber auch Fälle, bei denen haargenau das Gegenteil angesagt ist. Das Problem ist: Generalisierung und Regeln aufzustellen ist für die Natur schlichtweg Gift. Das Paradigma, dass keine Art verloren gehen soll, ist letztlich ein ethisch-moralischer Ansatz. Ob wir jede einzelne Pflanzen- oder Tierart für den Menschen brauchen, ist letztlich eine ziemlich sinnlose Frage.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2013)

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