Mündige Münder: Ein Philosoph kam in die Küche

Ernährungsphilosophie. Wird bald ein Gen-Paß unsere freie Wahl auf Speisekarten einengen? Kann uns Essen moralisch bessern? Und wo bleibt die Natürlichkeit? Aus einem Gespräch mit dem Philosophen Michiel Korthals: Materialien für eine Kritik der kulinarischen Vernunft.

Die Beziehung zwischen Philosophie und Essen hat eine lange Tradition: Schon in der Bibel wird das Denken immer wieder durch Analogien mit der Nahrungsaufnahme beschrieben. So heißt es im Matthäus-Evangelium, daß der Mensch "nicht nur vom Brot allein lebt, sondern von jenem Wort, das aus Gottes Mund kommt". Und, in der Bergpredigt: "Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit."

Kant empfahl, im Falle geistiger Übersättigung Abwechslung in die geistige Kost zu bringen. Wittgenstein meinte in seinen "Philosophischen Untersuchungen", daß einseitige Diät eine der Hauptursachen philosophischer Krankheit sei. Und Sartre wehrte sich vehement gegen eine "Nahrungsphilosophie" einiger Zeitgenossen, der zufolge "Erkennen wie Essen" sei, also die Menschen sich die Objekte ihrer Erkenntnis gedankenlos einverleiben würden.

Ein Motiv für die häufigen Nahrungsmetaphern ist eine grundlegende Analogie: Die Vorgänge Essen und Reden geschehen durch dieselbe Körperöffnung. Isidor von Sevilla wollte sogar eine ethymologische Analogie entdecken: "Der Mund (os) wird so genannt, weil durch ihn wie durch ein Tor (ostium) Speisen hineingehen und Worte heraus", schrieb er vor 1400 Jahren.

Nahrungsmetaphern ziehen und zogen sich durch praktisch alle großen Werke der Geistesgeschichte. Bloß: Kein Philosoph ist dabei methodisch und systematisch vorgegangen. Das beklagt etwa die italienische Philosophin Francesca Rigotti in ihrem kürzlich erschienenen Buch "Philosophie in der Küche". Das soll sich nun ändern, wie der niederländische Philosoph Michiel Korthals, tätig an der Agraruniversität in Wageningen, im Gespräch mit der "Presse" erläutert.

Korthals ist einer der Wortführer einer Bewegung, die das

"Essen ist nicht nur das
Paradies der Vereinigung, sondern auch eine Hölle der
Unterscheidung."

Denken über das Essen systematisieren will. In Zeiten nach Nahrungsmittelkrisen wie dem belgischen Dioxin-Skandal oder der Rinderseuche BSE sowie der Angst vor genetisch manipulierten Pflanzen und Tieren haben sich vor allem im angloamerikanischen Raum und in Frankreich viele Denker zusammengetan und organisieren auch regelmäßig einschlägige Kongresse.

Einer der wesentlichen Ausgangspunkte in Korthals' Denken ist ein Satz, den der materialistische Philosoph Ludwig Feuerbach formulierte: "Der Mensch ist, was er ißt." Schon 90 Jahre vor Feuerbach hatte Jean-Jacques Rousseau in seinem Roman "Julie oder die neue H©loise" mit diesem Gedanken gespielt - und etwa dem Italiener attestiert, er sei "weibisch und weichlich", weil er nur Grünzeug esse. Auch Rousseau lehnte sich freilich an eine ältere Tradition an. Immerhin glaubte er tatsächlich, daß Menschen moralisch besser würden, wenn sie mehr Milch tränken - in Analogie zur "natürlichsten" aller Nahrungen, der Muttermilch.

Korthals formuliert seine Skepsis gegenüber dem Rousseau-Satz plakativ: "Wenn ich Stücke des deutschen Bundeskanzlers Schröder esse, dann bin ich noch lange nicht Schröder." Als philosophische Aussage hört sich das so an: "Wenn man wirklich wäre, was man ißt, wäre das ein Ernährungsdeterminismus." An eine solche Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Sein und Essen kann er nicht glauben.

Zur Begründung seiner Ablehnung bemüht Korthals eine bewährte Methode der Philosophen: Mit scharfem analytischem Blick "schubladisiert" er verschiedene Aspekte, Funktionen des Essens. Neben der Aufnahme von Nährstoffen und deren Wirkung auf den menschlichen Körper und Geist - beides nicht die Domäne der Geisteswissenschaft - macht er vier Funktionen der Nahrung aus. Erstens eine ästhetische. Essen hat viel mit Genießen zu tun - und das auf mehreren Ebenen.

Es gebe ja auch einen "Genuß zweiter Ordnung", den man dabei empfinde, wenn man einem anderen Menschen beim Genießen zuschaue.

Zwanglos führt das zur zweiten Funktion des Essens: der sozialen. Man kaufe eben gemeinsam ein, koche gemeinsam und, vor allem: man esse gemeinsam, betont Korthals. "Essen einigt, kann aber gleichzeitig auch trennen. Man betrachte nur das Verhalten von Wein- beziehungsweise Biertrinkern."

Im größeren Maßstab gesehen führt das zur dritten Funktion: einer kulturellen. Essen kann als Unterscheidungsmittel dienen. "Essen ist nicht nur das Paradies der Vereinigung, sondern auch eine Hölle der Unterscheidung", sagt Korthals. Er meint dabei weniger die Unterschiede zwischen Kulturen, sondern jene innerhalb einer Gesellschaft - die immer stärker würden.

Die Gemeinsamkeiten in der Ernährung, so Korthals' Diagnose, sind in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden,

"Ich bezweifle, daß die Natur uns Vorschriften gibt, wie wir uns Tieren gegenüber verhalten sollen. Denn viele Tiere sind unsere Geschöpfe,
unsere Kunstwerke."

haben einem "Pluralismus der Ernährungsstile" Platz gemacht: Traditionsesser, Fast-food- und Slow-food-Konsumenten - bis zum selbstverwirklichenden Gesundheits-Freak. Freilich: Die meisten Menschen mischen die Stile. "Vor 20 Jahren war man noch der Meinung, daß das Essen, das wir in unserer Jugend zu uns nehmen, bestimmt, was wir später essen", so Korthals. Nun sei aber alles im Fluß in der Ernährungslandschaft.

Bei der vierten Dimension des Essens, bei der ethisch/moralischen Funktion, verläßt Korthals die Ebene der reinen Analytik. Er schwenkt um auf eine normative Ebene und versucht, die Kriterien dingfest zu machen, nach denen Menschen mehr oder weniger bewußt ihre Nahrung auswählen.

Stark betont er die Herstellung der Lebensmittel. Diese sei in der Philosophiegeschichte sträflich vernachlässigt worden. "Immer mehr Konsumenten fordern aber, daß die Herstellungsverfahren ethisch verantwortbar sein müssen." Ein deutliches Zeichen dafür war während der BSE-Krise schön zu beobachten: die Verquickung der aktuellen Probleme mit Fragen der Tierhaltung.

Zugleich die Betonung der "Natürlichkeit". Dieses Wort verursacht dem Philosophen aber Bauchweh: "Man sollte sehr vorsichtig sein, die Natur als Kriterium einzuführen: Natur ist immer das, was wir darunter verstehen." Und weiter: "Ich bin sehr skeptisch, ob die Natur Vorschriften gibt, wie wir uns Tieren gegenüber verhalten sollen - denn viele Tiere sind unsere Geschöpfe, sind unsere Kunstwerke."

Ist der Mensch nun, was er ißt? Die Philosophie kann, wie bei vielen anderen Fragen, keine letztgültige Antwort geben: In manchen Aspekten wie etwa der sozialen Funktion des Essens hat der Satz einiges für sich. Der andauernde Wandel der Ernährungsgewohnheiten und die Globalisierung der Ernährungsweisen widersprechen dem hingegen grundlegend.

Noch größer wird die Unsicherheit durch den Einbruch der modernen Wissenschaften, vor allem der Genetik in die Ernährung. Viele Genforscher behaupten, vereinfacht gesagt, daß unsere Gene bestimmen, was wir essen - und zwar auf zwei Ebenen. Erstens könnten die Vorlieben für bestimmte Lebensmittel in den Erbanlagen bestimmt sein. Zweitens beeinflussen Gen-Ausprägungen, wie ein Individuum bestimmte Lebensmittel verträgt.

Die Vision vieler Forscher ist eine Art "Gen-Paß". Aus der Analyse des Genoms eines Individuums - die in einigen Jahren oder zumindest Jahrzehnten möglich sein wird - ist dort eingetragen, welche Lebensmittel ein Mensch zu sich nehmen sollte und welche nicht.

"Die Gene würden das Menü jedes einzelnen Menschen bestimmen. Das wäre klarer Nahrungsdeterminismus."

Für Korthals sind das zwar noch "Utopien", er stellt aber fest, daß die Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten der Menschen riesig wären: "Die Gene würden dadurch das Menü der einzelnen Menschen bestimmen", sagt der Philosoph - und es schaudert ihn dabei, weil das ein klarer "Nahrungsdeterminismus" ist, mit dem er nicht leben kann und will. Die Gene würden den Menschen entmündigen, weil sie ihm jegliche Notwendigkeit einer Entscheidung abnehmen, diagnostiziert er.

Hier fühlt sich Korthals bemüßigt, Kant zu zitieren: "Es ist so bequem, unmündig zu sein, hat der große Philosoph 1785 geschrieben." Und mit Kant fordert er, daß sich die Menschen nicht auf eine Unmündigkeit zurückziehen dürften. Auch nicht beim Essen. Vielmehr müsse jeder Mensch selbst urteilen und seinen eigenen Geschmack entwickeln.

Und Korthals gibt hier seiner Kollegin Rigotti recht. Sie bedauert, daß Kant keine vierte Kritik, nämlich jene der "kulinarischen Vernunft", geschrieben hat, obwohl ihn seine Tischgenossen angeblich dazu ermuntert haben. So stehen die Philosophen ohne fertiges Gedankengerüst da und plagen sich selbst herum.

Allerdings: Bei vielen aktuellen Problemen könnte auch Kant nicht helfen. Denn die Lebensmitteltechnologie, die sich derzeit rasant verändert, ist bis zum Beginn der industriellen Revolution praktisch unverändert geblieben. Für Korthals dringend ist aber eine Antwort

"Im Ernährungsland sind
die Menschen noch
nicht mündig."

auf die Frage, wie man sich angesichts der technologischen Veränderungen verhalten solle.

Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen den Werten, die das Ernährungsverhalten prägen, und dem technologischen Fortschritt? Korthals sieht zwei mögliche Antworten: Einer "technokratischen" Auffassung zufolge hätten die Menschen immer Schwierigkeiten mit Neuem gehabt, sie würden sich schon daran gewöhnen. Die Gegenposition: Die Ernährungswissenschaften sollen eben die Werte und ihre Einhaltung kontrollieren.

Beide Wege befriedigen Korthals nicht. Essen könnte vielmehr eine Brücke zwischen Werten und Technologie sein, postuliert er. Die beiden Gegenpole sollten sich in einer Art Ko-Evolution aufeinander zuentwickeln. Doch davor sieht er ein gröberes Problem: "Im Ernährungsland sind die Menschen noch nicht mündig."

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