Wachstumszyklen auf dem Haupt: Wenn die Haare dünner werden

Geheimratsecken? Eine sich abzeichnende "Tonsur" auf dem Hinterhaupt? Ein schwacher Trost: Die Wissenschaft kann dies schon recht gut erklären. Doch die Wundertinktur dürfte noch auf sich warten lassen: Die Mechanismen des Haarwuchses sind stark mit anderen Aspekten unserer Physiologie verschränkt.

Manche Frauen, heißt es, erleben Männer mit kahlem Haupt als besonders erotisch. Doch sehr viele Betroffene sind mit ihrer Glatze ganz und gar nicht zufrieden - und sehnen sich nach den abgestorbenen, reichlich durch das Stützprotein Keratin verstärkten Zellen, die wir Haare nennen.

Auch wenn die Werbung beharrlich Abhilfe verspricht - alle bisher eingesetzten Haarwuchsmittel zeigten nur bescheidene Erfolge. Fast alle Mittel wurden rein empirisch gefunden; warum sie wirken, ist - mit Ausnahme von Finasterid (siehe unten) - nicht genau bekannt. Sie wirken vor allem nur dann, wenn die Haarfollikel - die vasenförmigen Strukturen in der Haut, aus denen die Haarschäfte wachsen - an den kahlen Stellen noch intakt sind und teilungsfähige Zellen enthalten.

Reaktion auf Testosteron

Schon Hippokrates fiel auf, daß Kastraten die typisch männliche Glatze - beginnend mit den Geheimratsecken, gefolgt vom Haarverlust am Hinterkopf - nicht entwickelten. Die Vermutung lag nahe, daß männliche Geschlechtshormone die Entwicklung der Kahlheit deutlich fördern. Tatsächlich fand man auf Zellen der Haarfollikel Rezeptoren für das männliche Geschlechtshormon Dihydrotestosteron, dessen Vorstufe, das Testosteron, im Hoden produziert wird. Das typische Bild des männlichen Haarausfalls ergibt sich daraus, daß nicht alle Haarfollikel gleich stark auf männliche Hormone reagieren: Sie haben unterschiedlich viele Rezeptoren für Dihydrotestosteron.

Doch der Haarwuchs wird nicht nur durch Dihydrotestosteron gesteuert. Selbst wenn sich ein Mann mit bereits lichtem Haar bereit erklären würde, seinen Testosteronspiegel zum Beispiel durch Kastration extrem senken zu lassen, würde er keinen Wuschelkopf mehr entwickeln. Eines der wenigen bisher als Medikament zugelassenen Haarwuchsmittel, das Finasterid (Handelsname Proscar), hemmt das Enzym, das Testosteron in Dihydrotestosteron umwandelt. Die Wirkung setzt jedoch nur langsam, bei fast 20 Prozent aller Patienten überhaupt nicht ein. Meist gelingt es nur, weiteren Haarausfall zu vermeiden.

Auf der Suche nach wirksamen Substanzen gegen Haarausfall haben weltweit Forscher die Mechanismen des Haarwachstums genauer unter die Lupe genommen. Schon während der Embryonalentwicklung werden die fünf bis sechs Millionen Haarfollikel in der Kopfhaut angelegt; nach der Geburt können keine weiteren ausgebildet werden.

Die Follikel beginnen mit ihrer Aktivität bereits im Mutterleib: Die meisten Babys haben bereits bei der Geburt Haare. Nach der Geburt fällt dieses Ersthaar relativ rasch wieder aus. Die Follikel können sich nur langsam regenerieren.

Haarfollikel können nicht ununterbrochen Haare bilden. In für jeden einzelnen Menschen charakteristischen Abständen - im Durchschnitt alle zwei bis acht Jahre - unterbrechen sie ihre Aktivität. Da - außer nach der Geburt - nicht alle Follikel gleichzeitig Pause machen, merkt man diese Haarbildungszyklen für gewöhnlich nicht. Etwa 90 Prozent der Follikel auf einem normalen Kopf sind jeweils in der Wachstumsphase, während die übrigen 10 Prozent pausieren. Wie lang die Haare eines Menschen werden, hängt von der individuellen Periodendauer des Wachstumszyklus ab: Längere Wachstumsphasen führen zu größerer maximaler Haarlänge.

100 Haare minus pro Tag

Im Anschluß an die Wachstumsphase sterben die meisten Zellen des Follikels ab. Nach einer mehrmonatigen Ruheperiode regenerieren sich die Haarfollikel, und das Haarwachstum beginnt von neuem. Falls das alte Haar bis dahin noch nicht ausgefallen ist, wird es durch das neue Haar aus dem Haarschaft verdrängt und fällt aus. Ein gesunder Erwachsener verliert an die hundert Haare pro Tag.

Männer, deren Haupthaar schwindet, verlieren nicht auf einen Schlag sämtliche Haare, doch die nachwachsenden Haare werden immer dünner und kürzer. Bruno Bernard, Biochemiker bei der Firma L'Or©al, hat dafür eine Erklärung: Er vermutet, daß die Haarfollikel von Männern mit Glatze die Haarbildungszyklen im Laufe des Lebens genauso oft durchlaufen wie jene normal behaarter Männer. Doch sind diese Zyklen bei den Kahlköpfen deutlich kürzer. Da die Gesamtzahl der Zyklen in einem menschlichen Leben ungefähr konstant sein dürfte, tritt der normale Alterungseffekt - Entfärbung und dünner werdende Haare - in wesentlich jüngeren Jahren auf.

Durch Untersuchung zahlreicher Mausmutanten konnten an die 20 Gene identifiziert werden, die die Haarwachstumszyklen beeinflussen. So funktioniert bei Mäusen mit einer Mutation in einem Gen namens Stat3 der Wechsel von der Ruhephase in die Wachstumsphase des Haares nicht richtig. Der Wachstumsfaktor FGF5 dürfte hingegen die Dauer der Wachstumsphase beeinflussen: Mäuse, deren FGF5-Gen defekt ist, haben ganz besonders lange Haare. Ein therapeutischer Ansatz wäre, die Aktivität von FGF5 zu reduzieren. Natürlich müßte vorher geklärt werden, ob die Blockade dieses Wachstumsfaktors nicht inakzeptable Nebenwirkungen in anderen Geweben verursacht.

Noch schwieriger wird es, wenn die Glatze bereits seit längerer Zeit manifest ist. Die Haarfollikel werden nämlich von Zyklus zu Zyklus kürzer, bis sie irgendwann nur mehr von Bindegewebszellen ausgefüllt sind und dadurch ihre Fähigkeit, Haare zu bilden, völlig verlieren. In diesem Stadium hilft derzeit nur eine Haartransplantation - ein sehr kostspieliges Verfahren, das oft nicht zum gewünschten Erfolg führt.

Signalproteine

Da prinzipiell nach der Geburt keine neuen Haarfollikel mehr gebildet werden, verfügt der Körper über keine Möglichkeit, die Haarpracht aus eigener Kraft wiederherzustellen. Es sei denn, man könnte ihn austricksen und die Zellen der Kopfhaut in die Zeit der Haarfollikelbildung zurückversetzen. Haarfollikel sind Organe der Haut, sie entstehen aus Hautzellen. Ein noch unbekanntes Signal veranlaßt Hautzellen, Verdickungen zu bilden, die sich unter dem Einfluß verschiedenster Wachstumsfaktoren vergrößern.

Ein weiteres Signal, vermutlich ein Signalprotein aus der Gruppe der WNT-Proteine, veranlaßt die Zellen der Verdickung, sich schlauchförmig in tiefere Hautschichten zu stülpen. WNT-Proteine binden dabei an einen Rezeptor in der Zellmembran der Hautzellen und aktivieren dadurch einen intrazellulären Signalweg. Diese Aktivierung mündet in der Einschaltung ganz bestimmter Gene.

Mäuse, bei denen dieser Signalweg ausgeschaltet ist, sind - wie erwartet - nackt. Mausmutanten, bei denen dieser Signalweg besonders aktiv ist, haben dagegen einen buschigen, ganz besonders dichten Pelz. Überraschend war, daß bei einer übermäßigen Aktivierung dieses Signalwegs auch erwachsenen Tiere neue Haarfollikel ausbilden können. Doch leider bildeten sich bei diesen Vollhaarmäusen in fortgeschrittenem Lebensalter Tumore in der Kopfhaut. Die Idee, durch Aktivierung des WNT-Signalwegs bei kahlköpfigen Menschen neue Haarfollikel sprießen zu lassen, ist also mit größter Vorsicht zu genießen.

Überhaupt äußern sich auch manche Forscher skeptisch. So meinte George Cotsarelis, Direktor der Haarklinik an der University of Pennsylvania, lakonisch zu Arbeiten über Wachstumsfaktoren: "Die Ergebnisse könnten nützlicher dafür sein, Haare loszuwerden, als dafür, neue zu bekommen."

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.