Mathematik: Zahlen, bitte, es ist Zeit!

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Rudolf Taschner erweist sich in seinem neuen Buch „Zeit – Zahl – Zufall – alles Erfindung?“ wieder einmal als gläubiger Pythagoräer und virtuoser Stilist.

Rudolf Taschner ist nicht nur feinsinniger Mathematiker, Erzähler, Polemiker und Kommentator, sondern auch bekennender Pythagoräer. (Und Platoniker: Als Ideen – und damit als realer als alles „Reale“ – gelten ihm die Zahlen; wäre er gottgläubig, würde er mit Leopold Kronecker glauben, dass der liebe Gott die natürlichen Zahlen geschaffen hat.) „Das Weltall mag vergehen, aber der Primzahlsatz wird auch bestehen, wenn es vergangen ist“, sagte er einmal zur „Presse“. Und in seinem neuen Buch schreibt er: „Wenn also etwas untrüglich sicher ,existiert‘, dann sind es die Zahlen, mit denen die Mathematik Gleichungen und Formeln zu bilden versteht.“ Fragt sich nur: Existieren alle Zahlen gleichermaßen untrüglich sicher? Die komplexen Zahlen genauso wie die reellen wie die natürlichen?

„Zeit und Zahl hängen untrennbar zusammen“, heißt es an anderer Stelle, und er versichert: „Die Zeit selbst vergeht nicht – wir vergehen, wir wechseln unsere Masken im großen Zirkus der Weltgeschichte.“

Aber wo existieren Zahlen und Zeit (und Zufall, das dritte Thema des Buches)? Draußen in der Welt? In einer „objektiven“ Realität? Auch dagegen protestiert Taschner: Die Zahlen seien „einfach nicht ,da draußen‘, sondern in uns“, schreibt er: „Sie sind unsere Erfindungen.“ „Es gibt keine Zeit ohne Bewusstsein“, zitiert er zustimmend Augustinus, wohl wissend, dass er damit dem Konzept Kants sehr nahekommt: die Zeit als Anschauungsform, die in uns steckt und nicht in der Welt an sich.

Existent oder erfunden?

Man muss kein sophistischer Kleingeist sein, um da einen inneren Widerspruch zu orten: Einerseits existieren die Zahlen jetzt und immerdar, andererseits haben wir sie erfunden. Das ist, konsequent durchdacht, wohl der wildeste Solipsismus aller Zeiten.

Weiß das Taschner? Sicher. Und gewiss freut er sich an der Paradoxie und Radikalität dieser Gedanken. Die er in diesem Buch nicht durchgehend entwickelt, sondern zwischen gewohnt virtuose Erzählungen streut: Euklids Körper und Gregors Kalender, Pascals Würfel und Erdös' Zahlen, bei Taschner wird alles Kulturgeschichte im besten Sinn, mit Genuss und Belehrung zu lesen. Vieles berührt – etwa die Schilderung des lebenslangen Werks des Malers Roman Opalka, der seit 1972 natürliche Zahlen malt, „jede Zahl ein Schritt, der unendlich fernen Ewigkeit entgegen“ –, manches erstaunt, etwa Taschners Belege dafür, dass unser intuitiver Umgang mit Wahrscheinlichkeiten oft irrt. Faszinierend ist sein quasi kontinuierlicher Übergang von „klassischen“ Würfeln zu „Photonenwürfeln“, denen die Individualität fehlt, was selbst dem geschicktesten Laplace'schen Dämon das kausale Handwerk legt.

Hier, im Terrain der Quanten, zögert Taschner freilich, den Begriff „objektiver Zufall“ zu verwenden – er würde nicht zu seiner Idee passen, dass es Zufall „draußen in der Welt“ nicht gebe. „Zufall ist eine Erfindung des menschlichen Geistes“, schreibt er – und spricht, noch provokanter, vom „Schicksal“, wohl wissend, welchen Reiz dieses raunende Wort einst auf einige Väter der Quantentheorie ausgeübt hat. Es ließ und lässt sich nicht fassen, wie das Wesen der Zeit, das Taschner schließlich als „Geheimnis“ bezeichnet. So wie die „Sicherheit, die mathematischen Theoremen im Unterschied zu allen anderen Aussagen eigen ist“. Die sei sogar ein „tiefes Geheimnis“.

Andere Universen: Haltlose Spekulation

Taschner lässt Geheimnisse stehen. Partout. Fast trotzig. Und zaust die Physiker, die über transzendentale Abgründe hinwegturnen wollen: Erfrischend, wie er Fragen, „was denn ,vor dem Urknall‘ geschehen sei, oder ob es neben unserem Universum noch andere ,Universen‘ gebe“, als „pure, haltlose Spekulation“ abkanzelt. Freilich schwingt da der Stolz des Mathematikers mit, der tief davon überzeugt ist, dass die Zahlen der Außenwelt „uneinholbar voraus“ sind. Wobei er sich andererseits den „Götzendienst der Zahl“ – in Ökonomie, Physik usw. – verbittet, quasi als Hüter der reinen Lehre...

Nach der Lektüre, schreibt Taschner, möge „der Eindruck verbleiben, man sei wie bei einem Spaziergang durch eine reizvolle Gegend geführt worden, ohne schweres Gepäck, ohne Ermüdung und Plage, ohne den Ehrgeiz, alle möglichen Wege abzuschreiten, alle Täler zu durchmessen, alle Berggipfel zu erobern, die im Laufe des Rundgangs das Auge erfreuen“. Das ist gelungen, der Eindruck verbleibt. Und ein vielleicht unbescheidener Wunsch: Das nächste Mal möchte man doch mit Taschner die eine oder andere Kletterei unternehmen, nicht gleich in metaphysische Höhen, aber auf mathematischen Steigen. Er hat die notwendigen Seile, Gurte und Karabiner.

KURZ-BIO: Rudolf Taschner

Geboren 1953 in Ternitz. Er lehrt an der TU Wien, in der Theresianischen Akademie – und im „math.space“ im Wiener Museumsquartier, wo er seine Überzeugung verwirklicht: Mathematik muss als kulturelle Errungenschaft präsentiert werden. Sein neues Buch „Zahl Zeit Zufall“ (nach „Der Zahlen gigantische Schatten“, 2004) ist soeben im „ecowin“-Verlag erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2007)

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