Ost und West = Reis und Weizen

(c) EPA (Diego Azubel)
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Die Agrikultur prägt die gesamte Kultur: Wo Weizen gepflanzt wird, gedeiht Individualismus, Reis hingegen lässt Kollektivismus sprießen. Das zeigt sich just in China.

Wie groß sind Sie, im Vergleich mit anderen, präziser: Wie groß schätzen Sie sich ein? Das hängt ganz davon ab, wo Sie leben bzw. woher Sie stammen. Falls das ein westlicher Industriestaat ist, dann gehören Sie zur Kultur der Weirds – western, educated, industrialized, rich, democratic –, und deren Selbsteinschätzung macht ihrem Namen Ehre. Das zeigte ein Test, den Shinobu Kitayama (University of Michigan) 2009 ersonnen hat: Dabei werden die Teilnehmer gebeten, sich selbst und das Netzwerk ihres Freundeskreises auf einem Blatt Papier zu skizzieren, jeder der Beteiligten wird mit einem Kreis markiert.
Um den geht es in Wahrheit: Die Kreise für die Freunde waren in den beteiligten Ländern – USA, UK, Deutschland, Japan – in etwa gleich groß, 21, 22 Millimeter. Aber die für die Egos differierten stark, ganz dick bliesen sich die US-Amerikaner auf  (27,13 mm), die Japaner hingegen machten sich klein (22,3), Deutsche und Briten lagen dazwischen (Journal of Personality and Social Psychology, 2, S. 236). Damit ist einer der großen Unterschiede zwischen den Kulturen West und Ost markiert: Die eine setzt auf das Individuum und sieht auch die Welt so, der Blick geht auf einzelne Objekte und zergliedert sie und ihre Zusammenhänge analytisch; die andere erfasst eher holistisch das Ganze und seine Bezüge. Das gilt auch für das Sozialleben, die Einzelnen nehmen sich zurück. Wo kommt das alles her?

Die Grenze ist der Jangtse . . .

Daher, dass die Ahnen im Osten eher Reis anpflanzten und die im Westen eher Weizen. Das ist der jüngste Erklärungsvorschlag. Er stammt von Thomas Talhelm, der studiert Kulturpsychologie an der University of Virginia, und er hat konkurrierende Hypothesen verglichen: Zum einen die Modernisierungshypothese, die darauf setzt, dass Individualisierung und analytisches Denken mit dem Reichtum kommen; zum Zweiten die Pathogen-Prävalenz-Theorie, die geht davon aus, dass in Regionen mit hoher Infektionsgefahr die Menschen enger zusammenrücken und sich nach außen abschotten. Auch das gehört zum „asiatischen“ Kollektivismus; und zum Dritten die Reistheorie. Sie ist eine Fortführung der Subsistenztheorie, die die heutigen Unterschiede etwa dadurch erklären wollte, dass die Ahnen der einen auf sich selbst gestellte Hirten waren und die der anderen auf andere angewiesene Bauern. Aber das greift zu kurz, und es gibt unterschiedliche Bauern, auch dort, wo man sie auf den ersten Blick gar nicht vermutet, in Ostasien, enger: in China.
Das ist das Untersuchungsgebiet Talhelms. Er hat es in seinem früheren Beruf kennengelernt, er war Englischlehrer, erst im Süden Chinas, dann im Norden. Dabei bemerkte er, dass es die klassische Ost/West-Divergenz auch in China selbst gibt, dort tut sie sich zwischen Süden und Norden auf, die Grenze zieht der Jangtse: Im Süden überwiegt der Reis, im Norden der Weizen. Die prägen das Leben und die Kultur der Bauern: Der Anbau von Reis, vor allem der auf gefluteten Feldern, nimmt doppelt so viel Zeit in Anspruch wie der von Weizen, und die notwendigen Bewässerungsanlagen kann ohnehin nur eine Gemeinschaft bauen und managen. Weizen kann jeder für sich säen und ernten, so steht es schon in einem chinesischen Bauernhandbuch des 16. Jahrhunderts: „Wenn jemand wenig Arbeitskräfte hat, ist Weizen am besten.“
Und das schlägt durch. Talhelm hat es an Studenten in sechs chinesischen Städten in verschiedenen Regionen gezeigt. Er hat sie zwei Tests machen lassen, zum einen die Loyalitäts- und Nepotismus-Aufgabe. Die erhebt, wie man sich gegenüber Freunden verhält und wie gegenüber Fremden, und in beiden Fällen auch gegenüber unehrlichen. Letztere werden im Westen leichter abgestraft, im Osten hält die Treue trotzdem, und dieses Muster zeigte sich auch in China: Der Norden ist westlicher. Das lässt sich auch aus offiziellen Statistiken herauslesen: Im Norden sind die Scheidungsraten höher, der Erfindergeist ist es auch. Dort werden mehr Patente angemeldet. Denn dort wird analytisch-westlich gedacht, das ergab der Triadentest: Dabei werden drei Gegenstände gezeigt, ein Bus, eine Eisenbahn, Eisenbahnschienen etwa. Welche zwei gehören zusammen? Für den westlichen Blick gehören Bus und Bahn in eine Kategorie, die der Verkehrsmittel, im Osten geht es um den funktionalen Bezug, die Bahn gehört zu den Schienen.

. . . je nach Ufer sprießt andere Kultur

Schließlich kam auch noch Kitayamas Test, der mit den Kreisen: Die aus den Weizenprovinzen machten sich groß, die aus den Reisprovinzen machten sich klein (Science, 344, S. 603). Das alles hielt nicht nur im großen Vergleich quer durch China, sondern auch auf engem Raum, innerhalb einzelner Provinzen, durch die der Jangtse fließt: An seinen beiden Ufern herrschen andere Kulturen, auf den Feldern, in den Köpfen.
Wie lange werden sie noch herrschen? Die Testpersonen waren keine Bauern, sondern eben Studenten, die nur aus den jeweiligen Regionen stammen. Aber Kultur geht so leicht nicht aus den Köpfen heraus, das weiß man aus den USA: Die Gewalt ist heute noch dort höher, wo sich einst Hirten aus Irland und Schottland ansiedelten.

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