Straßenbahnen lernen sehen

Intelligente Schienenfahrzeuge. Forscher am Austrian Institute of Technology bringen Schienenfahrzeugen bei, Hindernisse selbst zu erkennen. Das soll für mehr Sicherheit sorgen.

In der Unterhaltungsindustrie ist 3-D seit Jahren ein großes Thema – kaum ein Blockbusterfilm, der nicht versucht, diese Technologie auszureizen. Dabei wird die Fähigkeit des Menschen ausgenutzt, die Bilder beider Augen so zu kombinieren, dass er die Entfernung der betrachteten Dinge abschätzen kann.

Dieser Prozess, der im Alltag ganz selbstverständlich funktioniert, ist durchaus nicht trivial: Woher weiß das Gehirn, wie die beiden Bilder zusammengesetzt werden sollen? Um die Entfernung eines Objekts zu schätzen, muss dieses erst einmal in beiden Bildern identifiziert werden.

Ein Radfahrer etwa wird von beiden Augen wahrgenommen, nur eben von jedem Auge an einer leicht veränderten Position. Erst wenn das Gehirn in beiden Augen den Radfahrer erkannt hat, kann auch seine Entfernung geschätzt werden. Dabei kommen komplexe Mustererkennungsprozesse zum Tragen, die in Sekundenbruchteilen funktionieren und dabei sehr verlässlich sein müssen.

Entfernung messen

In den letzten Jahren ist es Forschern immer besser gelungen, diese Prozesse mit Computermethoden nachzubilden. So gut, dass 3-D-Kamerasysteme vielerorts für den Praxiseinsatz vorbereitet werden.

Ein solches Einsatzgebiet erforscht man am Austrian Institute of Technology (AIT) in Wien. In Straßenbahnen des Herstellers Bombardier sollen künftig 3-D-Kameras Hindernisse erkennen und so für mehr Sicherheit sorgen.

„Im Prinzip macht unser System nichts anderes als der Mensch“, erklärt Manfred Gruber, Leiter der Einheit Safe and Autonomous Systems am AIT. „Auch wir berechnen aus mehreren Bildern die Entfernung eines Objekts.“ Allerdings ist die Reichweite größer: „Beim Menschen gibt es Schwierigkeiten bei Objekten mit zehn bis 20 Metern Entfernung. Wir können noch Entfernungen bis 60 Meter gut messen“, so Gruber.

Erreicht wird das mit drei optischen 1,2-Megapixel-Kameras, die unregelmäßig angeordnet sind: Die beiden äußeren haben einen Meter Abstand, die mittlere ist leicht versetzt. Für sehr weit entfernte Objekte liefern die äußeren Kameras die genaueste Abschätzung, für nähere Objekte kommt das mittlere Bild ins Spiel. Die Berechnungen erledigt ein Computer, dessen Leistung mit handelsüblichen PCs vergleichbar ist, allerdings mit anderen Anforderungen an Verlässlichkeit und Wartbarkeit. Apropos Verlässlichkeit – wird dieses System den Fahrer ersetzen? „Nein“, sagt Gruber, „im ersten Schritt ist es ein rein warnendes System. Bei Erkennen eines Hindernisses wird etwa ein Signalton aktiviert.“ Ein eigenständiges Bremsen des Fahrzeugs ist technisch möglich, aber die Zulassung ist schwieriger zu bekommen.

Das „Warnende System“ ist bereit: Derzeit läuft das Zulassungsprozedere für Deutschland, nächstes Jahr soll es eingesetzt werden. Schon jetzt sind Straßenbahnen in Frankfurt mit den Kameras des AIT ausgestattet, noch ohne Rückmeldung an den Fahrer. Es geht darum, Daten und Erfahrung zu sammeln. „Völlig autonome Straßenbahnen sind in Zukunft denkbar“, sagt Gruber. Er verweist auch auf die kürzliche Änderung der Wiener Konvention der Vereinten Nationen, wonach bisher autonomes Fahren im Straßenverkehr verboten war. Nun ist nur mehr vorgeschrieben, dass die Automatik jederzeit abschaltbar sein muss.

Gruber weist darauf hin, dass es noch viele Hürden gibt. Auch die Psychologie ist ein Thema: Noch immer verunsichern Fahrerassistenzsysteme viele Menschen, obwohl ABS seit fast 50 Jahren auf den Straßen präsent ist. Auch hier hilft die Technik nach – inzwischen ganz selbstverständlich.

Technisch sind Systeme wie jenes, das nun für Bombardier entwickelt wurde, erst seit einigen Jahren möglich, durch immer bessere Hardware, aber auch durch effizientere Algorithmik. Am AIT suchte man den Mittelweg zwischen Genauigkeit und Performance, um das System in Echtzeit lauffähig zu machen. 20 bis 30 Bilder müssen pro Sekunde analysiert werden, von jeder Kamera.

Autonome Lkw

Diese Algorithmen sind inzwischen optimiert und vielseitig einsetzbar. Am AIT beschäftigt man sich im Rahmen des Projekts Kiras, das vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie gefördert wird, mit der Entwicklung völlig autonomer Lkw oder auch Steuerungssystemen für semiautonome Konvois, die in Krisengebieten zum Einsatz kommen sollen.

Ein weiteres Thema sind Systeme zur Positionsbestimmung für Flugzeuge. Diese funktioniert üblicherweise über satellitengestützte Systeme, unter anderem GPS. Ist die GPS-Ortung gestört, so kann der Ausfall mittels automatisierter Orientierung anhand von Umgebungsbildern überbrückt werden.

Eine überraschende Anwendung ist der Dentalscanner, der gemeinsam mit a.tron3d entwickelt wurde. Der Scanner sieht aus wie ein gewöhnliches Zahnarztgerät und ist mit einer kleinen 3-D-Kamera ausgestattet. Die Bilder leitet er per USB an einen gewöhnlichen PC weiter, der daraus ein räumliches Modell der Zähne erstellt. Die Technologie ersetzt damit lästige Gebissabdrücke.

Bei der Zusammenarbeit mit dem Straßenbahnbauer Bombardier und anderen Wirtschaftspartnern folgt das AIT seiner Philosophie, angewandte Forschung zu „zentralen Infrastrukturthemen der Zukunft“ zu betreiben. Man versteht sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Industrie und setzt auf längerfristige Zusammenarbeit mit Unternehmen, die sich auf die Herausforderungen von übermorgen vorbereiten wollen.

LEXIKON

Das Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr ist eine Konvention, die bei der UN-Konferenz 1968 in Wien erarbeitet und von 85 Staaten unterschrieben wurde, von einigen aber nicht ratifiziert. Artikel 8 beschäftigt sich mit dem Führen von Fahrzeugen. Dort hieß es bisher: „Jeder Führer muss dauernd sein Fahrzeug beherrschen oder seine Tiere führen können“, was im Widerspruch zu autonom fahrenden Autos stand. Im Mai 2014 wurde der Artikel ergänzt. Seither sind autonom fahrende Systeme möglich, wenn sie sich jederzeit ausschalten lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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