Abschied vom Doyen der Wiener Physik

ARCHIVBILD: WALTER THIRRING
ARCHIVBILD: WALTER THIRRINGAPA/HELMUT FOHRINGER
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Der letzte, der noch mit Einstein und Schrödinger, Pauli und Heisenberg gearbeitet hat: Walter Thirring, theoretischer Physiker, Musiker und evangelischer Christ, ist im Alter von 87 Jahren in Wien gestorben.

Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's 80 Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir dahin.“ Diese Verse aus dem 90. Psalm stellte Walter Thirring 2008 seinem autobiografischen Buch „Lust am Forschen“ voran. Nun ist er im 87. Lebensjahr gestorben: Wer ihn kannte, diesen stillen, bescheidenen und, ja, frommen Physiker, ist erschüttert.

Man sagt es schnell in Nachrufen, bei ihm stimmt es: Walter Thirring war einer der Letzten einer Ära. Er hat noch mit allen Größen seiner Zunft zusammengearbeitet: Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger, Wolfgang Pauli, Albert Einstein. Für sie war er „der junge Thirring“: Sein Vater Hans Thirring (1888–1976) war auch Physiker, er sagte 1918 den Lense-Thirring-Effekt der allgemeinen Relativitätstheorie voraus, der erst 2004 experimentell bestätigt wurde.

Modell der Quantenfeldtheorie

Walter Thirring ging in seinen Spuren, konzentrierte sich aber vor allem auf die Quantenfeldtheorie, in der er etwa ein nach ihm benanntes exakt lösbares Modell einführte. „Der Leser wird dies vielleicht für Schwindel halten“, erklärte er einmal mit seinem typischen trockenen Humor über die Quantenfeldtheorie, „das stimmt bis zu einem gewissen Grad.“ Wesentliches trug er auch zur Untersuchung der Stabilität der Materie bei, analysierte das fragile Gleichgewicht der Kräfte, die Sterne zusammenhalten und ihn auseinanderreißen. Er verfasste Standardlehrbücher der Mathematischen Physik, aber auch populärwissenschaftliche Werke, etwa „Einstein entformelt“, gemeinsam mit Cornelia Faustmann.

Auch wenn es Atheisten unter seinen Kollegen unangenehm war, stellte Thirring, dessen Vorfahren wegen ihres protestantischen Glaubens um 1620 aus Thüringen auswandern mussten, sich in der Öffentlichkeit stets als bekennender Christ dar – in aller Bescheidenheit, das Welterklärungspathos mancher Physiker war ihm auch hier fremd. „Ich glaube, das Wesentliche an der christlichen Religion lässt sich in einem Jesuswort formulieren: Wir sind alle Kinder desselben himmlischen Vaters und sind angehalten, seinen Willen zu erfüllen, sagte er einmal in de „Presse“: „Wie der himmlische Vater genau ausschaut, darüber sich den Kopf zu zerbrechen, das hat, glaub ich, keinen Sinn.“ In „Lust am Forschen“ schrieb er: „Was immer wir uns für Bilder und Vorstellungen von dem Schöpfer abgerungen haben, wir schulden Demut und Anerkennung, dass wir in so eine wundervolle Welt hineingeboren sind.“ Und das in einem Buch, in dem er sehr viel Schreckliches schilderte, den NS-Terror etwa, den Krieg, in den er kurz vor der Matura geschickt wurde. Sein Bruder schrieb ihm von der Ostfront, er werde den Krieg wohl nicht überleben, Walter möge die wissenschaftliche Tradition der Familie aufrechterhalten. Worauf sich dieser, der gerade eine Blinddarmoperation überstanden hatte und damit kurz vom Krieg verschont wurde, vom Vater ein 600-Seiten-Buch über Theoretische Physik ausborgte...

Nach 64 Jahren für „reif“ erklärt

Das Maturazeugnis wurde ihm von einem ehemaligen Gymnasium, der Neulandschule in Wien-Grinzing, 2009 „honoris causa“ ausgefertigt. Dokorate, sagte er, habe er ja schon genug. Auch sonstige Auszeichnungen, vom Erwin-Schrödinger-Preis über die Max-Planck-Medaille bis zum Paul-Watzlawick-Ehrenring. Er war Mitglied der wissenschaftlichen Akademien in Österreich, Deutschland, Ungarn, den USA, auch der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften.

Direktor im Cern

Thirring hat das Wiener Physik-Institut und das Schrödinger-Institut aufgebaut, hat das Cern in Genf geprägt, wo er von 1968 bis 1971 Direktor der Abteilung für theoretische Physik war. Die Experimente in den riesigen Teilchenbeschleunigern hat er stets unterstützt, freilich nie mit großsprecherischen Phrasen.

Eigentlich, so erzählte er, hätte er ja Musiker werden wollen: Er spielte Orgel und Klavier, komponierte. „Jedenfalls beweist die Musik, dass es Dinge gibt, die nicht allein durch die physikalischen Gegebenheiten erklärbar sind“, sagte er. Selbst zweifacher Vater, war er auch beliebter Babysitter. „Meine Kinder erinnern sich heute noch an seine Geschichten über verzauberte Teilchen“, erzählte seine Physikerkollegin Lore Sexl.

„Für eine Metaphysik des Seins“ hieß die Vorlesung, die Thirring zur Verleihung des Watzlawick-Ehrenrings hielt. Er hätte sie lieber „Was ist Wahrheit?“ genannt, nach der Frage des Pilatus, sagte er. Und fand eine sehr relative Definition: „Wahrheit ist, was in 2000 Jahren noch eine Richtigkeit haben wird.“ So konnte er auch mit Spekulationen über andere Universen nichts anfangen: Diese seien uns per definitionem nicht zugänglich.

In derselben Vorlesung fand Thirring auch eine verschmitzte Annäherung an den Zufall, der ja in der Quantenphysik so zentral ist. Er überlege seit gut 60 Jahren, was der Zufall sei, wisse es aber immer noch nicht wirklich. Vielleicht habe ja Albert Schweitzer recht: „Zufall ist, wo Gott inkognito agiert.“

Bis zum Schluss hatte Thirring sein Zimmer im Institut für Theoretische Physik, meldete sich, wenn auch mit schon schwacher Stimme, zu Wort, wenn er's für notwendig hielt. Die Wiener Physik verliert mit ihm eine Vaterfigur, einen Großen, der sich immer der Grenzen seiner Wissenschaft bewusst war. Am Ende seiner Autobiografie zitierte er Newton: „Ich bin wie ein Knabe, der am Strand ein paar schöne Muscheln gefunden hat. Aber das unendliche Meer des Unerforschten liegt noch vor mir.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2014)

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