Evolution: Urauge im lichtscheuen Wurm

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der Fadenwurm hat Zellen, mit denen er Licht wahrnimmt. Und er überträgt die Signale mit denselben Molekülen wie wir. So alt ist das Prinzip Auge.

Er ist mit einer Länge von ca. einem Millimeter nicht größer als ein Beistrich auf dieser Seite, der Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Aber er ist ein erklärtes Lieblingstier der Genetiker, weil er so übersichtlich und zuverlässig ist: Er besteht immer aus 959 Zellen – wenn er ein Zwitter ist; wenn er ein Männchen ist, sind es 1031 Zellen, reine Weibchen gibt es nicht. Unter diesen Zellen sind immerhin 302 Nervenzellen (zum Vergleich: der Mensch hat an die 100 Milliarden Nervenzellen), und vier davon regieren auf Licht.

Das stellten Forscher um Shawn Xu (University of Michigan) fest, und das ist eine kleine Sensation. Denn dieses Würmchen lebt in der Erde, jeder hätte gedacht, dass es völlig blind ist. Doch schon einfache Experimente zeigten, dass es auf Licht reagiert: Es weicht ihm aus, schlängelt sofort in die entgegengesetzte Richtung, wenn ihn ein Lichtstrahl trifft. Besonders stark reagiert er auf ultraviolettes Licht der Sorte UV-A (380 bis 315 Nanometer), das ist das Licht, das bei Menschen den Sonnenbrand erzeugt und oft auch an Hautkrebs schuld ist.

UV-Strahlung schadet ihm

Offenbar weicht der Wurm dem Licht aus dem gleichen Grund aus, aus dem der Mensch die pralle Sonne scheuen sollte: Es tut ihm nicht gut. Für den Erdenwurm ist die ultraviolette Strahlung noch viel schädlicher als für uns, da er nicht darauf eingerichtet ist. Damit kennt man von ihm schon fünf Sinne: Er hat auch Rezeptoren für Geschmack, Berührung, Geruch und Körperhaltung.

„Er sieht das Licht, er mag es nicht, und das Licht treibt ihn zurück in eine dunkle Umgebung“, fasst Shawn Xu zusammen. Aber was heißt hier „sehen“? Natürlich sieht der Wurm keine Bilder, er stellt nur fest, dass Licht auf seine Oberfläche fällt. Und darauf reagiert er wie eine Pflanze, die ihre Blätter vom Licht abwendet („negative Phototaxis“).

Wirklich spannend ist, was die US-Forscher im biochemischen Detail über den Lichtsinn des Wurmes herausfanden (Nature Neuroscience, 6.7.): Die Signalübertragung in den lichtempfindlichen Zellen, also die Umwandlung des optischen Signals in ein elektrisches Signal, funktioniert über CNG-Kanäle, das sind Kanäle in der Zellmembran, die durch zyklisches Guanosinmonophosphat (GMP) gesteuert werden. Auch Wirbeltiere, darunter Menschen, verwenden in ihren Augen denselben Mechanismus. Die Fruchtfliege Drosophila aber, das genetisch am besten bekannte Insekt, setzt in ihren Facettenaugen andere Kanäle ein.

Was ist daran so überraschend? Nun, Fliegen und Fadenwürmer gehören entwicklungsgeschichtlich viel eher zusammen als Fadenwürmer und Wirbeltiere. Sie sind beide Urmünder (Protostomia), ja sogar beide Häutungstiere (Ecdysozoa). Die Wirbeltiere gehören ins andere Reich, zu den Neumündern (Deuterostomia), die sozusagen verkehrt gebaut sind.

Vor der Spaltung des Tierreichs

Das spricht dafür, dass die Lichtwahrnehmung über CNG-Kanäle älter ist als die Aufspaltung in Ur- und Neumünder, dass schon die Ur-Bilateria (zu den Bilateria gehören praktisch alle vielzelligen Tiere aus Schwämmen und Quallen) diesen Mechanismus kannten. Der alternative Mechanismus in den Fliegenaugen wäre dann erst später entwickelt worden, vielleicht zusätzlich, man weiß ja nicht, ob man nicht doch noch Spuren von CNG-Kanälen in Fliegen findet.

So führt uns der lichtscheue Wurm näher dorthin, was Charles Darwin das „Urauge“ nannte. Dieses müsse nur aus zwei Grundtypen von Zell bestehen, meinte er: aus lichtempfindlichen Zellen und aus Pigmentzellen, die diese (teilweise) abschirmen, sodass das Tier erkennen kann, aus welcher Richtung das Licht kommt. Caeno-rhabditis elegans hat nur lichtempfindliche Zellen und keine Zellen, die diese abschirmen, aber das macht nichts, sagen die Forscher: Die Erde, unter der sich der Wurm verkriecht, ersetze die abschirmenden Zellen. Vielleicht seien diese auch bei Ahnen des Wurms verloren gegangen, als sie den Boden als Lebensraum wählten.

„Prototyp aller visueller Systeme“

Xu fasst seine These zusammen: „Wir schlagen vor, dass die Photorezeptor-Zellen, die wir in C. elegans entdeckt haben, Darwins Urauge – dem Prototyp aller visueller Systeme – ähneln, und dass dieses System über mehrere hundert Millionen Jahre der Evolution erhalten geblieben ist.“

Der Vater der Evolutionstheorie war in dieser Frage verblüffend modern: Viele Biologen nach Darwin hielten es für eher wahrscheinlich, dass sich die vielfältigen Typen von Augen, die man im Tierreich findet, unabhängig voneinander entwickelt haben. Dafür spricht die Vielzahl der Baupläne bzw. der Entwicklungsmuster: So bildet sich das Linsenauge der Weichtiere aus der Haut, das Linsenauge der Wirbeltiere aber aus Zellen, die später zum Hirn werden.

Das Gen, das alle Augen baut

„Augen entstehen in der Evolution leicht, schnell und beim geringsten Anlass“, schrieb Richard Dawkins im Kapitel „Der vierzigfache Pfad zur Erleuchtung“. Es sind wohl beide Ansichten wahr: Augen entwickeln sich schnell (weil jede Verbesserung in der Fähigkeit, Licht wahrzunehmen, einen immensen Vorteil für ein Individuum bedeutet), aber sie bauen (fast) alle auf sehr alten genetischen und biochemischen Mustern. Unter diesen dürfte die Signalübertragung via CNG-Kanälen sein, wohl auch die Verwendung von Rhodopsinen als Sehfarbstoffe (das haben die Forscher um Xu im Wurm leider noch nicht untersucht). Und vielleicht auch ein Gen, das die gesamte Entstehung eines Auges, sei es noch so primitiv, anwirft: „Pax8“ heißt es, bei der Fliege sprechender „eyeless“: Wenn es fehlt, entsteht kein Auge. Es lässt sich sogar von Mäusen auf Fliegen oder von Fliegen auf Frösche verpflanzen, so universell ist es. Ob auch Caenorhabditis ein solches Gen hat?

TYPEN VON AUGEN

Primitive Augen melden nur Intensität und Richtung von Licht. Viele Typen, z.B. Flachauge (Quallen, Seesterne), Pigmentbecherauge (Schnecken), Grubenauge.

Abbildende Augen erstellen ein Bild, das vom Hirn weiter interpretiert werden kann.
a) Komplexaugen (= Facettenaugen, Krebse und Insekten), b) Lochkamera-Augen (Kopffüßer Nautilus), c) (Einzel-)Linsenaugen (Wirbeltiere, aber auch manche Wirbellose, z.B. Weichtiere), d) Spiegelaugen (z.B. Langusten): Das (verzerrte) Bild wird durch Hohlspiegel hinter der Netzhaut erzeugt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2008)

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