Bürger folgen ihrer Stammpartei

Porträt. Der Politikwissenschaftler und Journalist Stefan Vospernik analysierte 183 Volksabstimmungen in Europa. Häufigste Themen sind EU-Fragen und Wahlsysteme.

Das Volk lässt sich nicht von Rattenfängern blenden“, sagt Stefan Vospernik. Die Bürger überlegen genau, bevor sie bei einer Volksabstimmung das Kreuzerl bei Ja oder Nein machen. Die Initiatoren der Volksabstimmungen – die „Rattenfänger“ – beeinflussten das Volk wenig: „Nur 39 Prozent der Abstimmungen gingen so aus, wie die Initiatoren das wollten.“ Der APA-Journalist hat Tag für Tag mit politischen Systemen anderer Länder zu tun und verglich nun in seiner Dissertation länderübergreifend Vorgänge der direkten Demokratie. Betreut wurde die Arbeit des Politikwissenschaftlers von Peter Gerlich am Institut für Staatswissenschaften der Universität Wien.

Der Fokus der APA-Außenpolitik auf Osteuropa half Vospernik bei der Recherche für seine wissenschaftlichen Fragen: „Länder, die erst seit 1990 demokratisch sind, sogenannte ,Neue Demokratien‘, wurden von der Politikwissenschaft noch wenig beachtet. Das wollte ich ändern.“ Er wählte als Untersuchungszeitraum 1990 bis 2012. Alle heutigen EU-Länder, die in der Zeit mindestens zwei Volksabstimmungen abgehalten hatten, kamen in die Analyse: Davon waren acht „Neue Demokratien“ wie Litauen und Lettland.

Österreich in der Studie nicht dabei

„Volksbegehren habe ich ausgeklammert, weil die Verbindlichkeit der Volksabstimmung spannend ist: Das ist direkte Demokratie, bei der das Volk entscheidet, was sich im Land ändern soll“, sagt Vospernik. Wer Volksabstimmung hört, denkt automatisch an die Schweiz, doch sie ist eine Ausnahme, die Vospernik nicht in seine Dissertation aufnehmen konnte: „In der Schweiz allein gibt es gleich viele Volksabstimmungen wie im restlichen Europa zusammen. So kann man keine Statistik betreiben. Ich habe mich auch deshalb auf EU-Länder beschränkt, weil die EU ein übergeordnetes System ist, bei dem man von einer Vereinheitlichung der politischen Systeme ausgehen kann.“ War Österreich im Sample? Nein, denn von 1990 bis 2012 gab es nur eine einzige Volksabstimmung: die zum EU-Beitritt anno 1994.

Die Recherche zum Vergleich der Volksabstimmungen in 15 EU-Ländern war sehr aufwendig: Vospernik wollte zu jeder der 183 stattgefundenen Abstimmungen wissen, wie sich die jeweiligen Landesparteien zur Abstimmungsfrage positioniert haben und ob die Bürger im Land den Empfehlungen „ihrer Parteien“ folgten.

Der Kärntner wertete Zeitungsartikel, wissenschaftliche Publikationen und stenografische Protokolle unzähliger Parlamentssitzungen aus, bis er statistisch gesichert wusste: Ja, die Bürger lassen sich von Empfehlungen ihrer Stammparteien zu einem Ja oder Nein leiten.

Besonders stolz ist Vospernik, dass sein Ergebnis eine Forschungslücke der Politikwissenschaft schließen konnte: Das wichtigste Konzept der Demokratietheorie stammt vom US-Wissenschaftler Arend Lijphart, der die Mehrheitsdemokratie (z.B. Großbritannien) von der Konsensdemokratie (z.B. Österreich) unterscheidet. „Lijphart analysierte alle möglichen Aspekte der verschiedenen Demokratiemuster. Doch mir gelang es, die direkte Demokratie in sein wissenschaftliches Modell zu integrieren.“ Vospernik konnte nämlich erstmals bestätigen, dass in Mehrheitsdemokratien, in denen die Opposition eher machtlos ist, öfters die Regierung Volksabstimmungen einsetzt, während diese in Konsensdemokratien ein zusätzliches Machtmittel für die Opposition sind.

Spannend war auch der Themenbogen der Referenden: „Dauerbrenner sind moralische Fragen etwa über Abtreibung in Irland oder Scheidung in Malta. In Dänemark fanden fast ausschließlich Abstimmungen über EU-Themen statt. Weiters gab es viele Referenden über das Wahlsystem des Staates und über Privatisierungen von Staatseigentum, vor allem in den Neuen Demokratien.“

ZUR PERSON

Stefan Vospernik, geboren 1977 in Klagenfurt, studierte Politikwissenschaft in Wien. In seiner Dissertation zeigt er, wie direkte Demokratie in EU-Ländern funktioniert (erscheint demnächst im Nomos Verlag). Der Wille zu Recherche scheint dem Villacher in die Wiege gelegt: Seit 2001 ist er Journalist bei der APA im Bereich Außenpolitik, seine Schwester, Cornelia Vospernik, ist ebenfalls angesehene Journalistin (ORF).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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