Vorwärts in die neue Zeit?

Universum 'Sonnenaufgang am Meeresgrund - Die unbekannte Landschaft der Tiefsee'
Universum 'Sonnenaufgang am Meeresgrund - Die unbekannte Landschaft der Tiefsee'ORF
  • Drucken

Der Mensch hat die Erde so umgebaut, dass viele eine neue Epoche angebrochen sehen, das Anthropozän. Aber die für Zeitalter Zuständigen zögern.

Letzte Woche trafen sich in Berlin die Herren der Zeit, um zu beraten, ob sie eine neue Epoche einläuten sollen, die des Anthropozän. Anthropozän? Herren der Zeit? Letztere sind, was die halben Ewigkeiten der Erdgeschichte angeht, die Geologen, sie lesen aus den Schichten und Fossilien im Gestein die Brüche heraus. Und sie entscheiden, wann die Zeit reif ist für eine neue Zeit, bzw. ihre International Commission on Stratigraphy (ICS) tut es.

Schnell schießen Geologen naturgemäß nicht: Die Idee, dass ein neues Kapitel der Erdgeschichte angebrochen ist, und dass das, anders als alle früheren, vom Menschen selbst geschrieben wird und deshalb nach ihm benannt werden sollte, hat nun auch schon über 140 Jahre auf dem Buckel: 1873 prägte der italienische Geologe Stoppani den Begriff „anthropozoische Ära“, der US-Autor Perkins Marsh nahm ihn auf – im Buch „The Earth as modified by Human Action“ –, der französische Philosoph Henri Bergson widmete ihm 1907 eine Eloge: „In tausenden Jahren werden unsere Kriege und Revolutionen nicht mehr zählen; aber von der Dampfmaschine wird man reden, so wie von der Bronze und den Steinwerkzeugen der prähistorischen Zeiten: Sie wird dazu dienen, ein Zeitalter zu definieren.“

Die Hoffnung geriet über den Umwälzungen der Weltkriege in Vergessenheit und kehrte erst wieder, nun im Gewand der Sorge, als die Triumphe der Technik ihre Kehrseite zeigten, in Umweltkrisen vom sauren Regen bis zur globalen Erwärmung. Anfang der 1990er-Jahre warnte Andrew Revkin, Journalist der „New York Times“, vor dem „Anthrocene“, und dann kam Paul Crutzen, der Chemiker, der in den 1970ern das erste globale Umweltproblem bemerkte – das Ozonloch – und 1995 dafür den Nobelpreis erhielt. Da hatte er sich dem Klimawandel zugewandt, anno 2000 ordnete er den als ein zentrales Merkmal des von ihm so genannten „Anthropocene“ ein.

„Damit warf Crutzen eine kleine Handgranate in die Welt der geologischen Zeit“, erinnert sich Jan Zalasiewicz, Geologe an der University of Leicester und Mitglied der ICS. Aber seine Zunft stellte sich weiter taub und ließ die Ladung verpuffen, Crutzen zündete vor allem unter all jenen, die mit Umwelt zu tun haben, sei es als schlicht Besorgte – Anthropocene bringt bei Google 747.000 Treffer –, sei es als Leute vom Fach. Etwa Bodenkundler, die berichten, dass die Menschen heute zehnmal so viel Gestein und Erde bewegen, wie die Natur das tut. Oder Biologen, die vorzählen, dass die Menschen ein Massensterben von Flora und Fauna in Gang gesetzt haben, das den früheren – bisher zählt man fünf, das letzte traf vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier – um nichts nachsteht.


„Coca-Cola-Layer“. Crutzen selbst schloss zunächst an Bergson an und wollte die neue Zeit mit der industriellen Revolution beginnen lassen, er erkannte allerdings bald, dass die erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Rasen kam, und bilanzierte 2011 die „große Beschleunigung“ in aller Breite (Phil. Trans.R.Soc 369, S.842): „Jeder Indikator menschlicher Aktivität zeigte um 1950 einen scharfen Anstieg. Die Bevölkerung wuchs in nur 50 Jahren von drei auf sechs Milliarden, bei der Ökonomie war es noch dramatischer, es gab einen Anstieg um das 15-Fache.“ Alle Kurven schossen exponentiell hinauf, die der Automobile (von 40 Millionen auf 700), die der McDonald's-Filialen (von null auf 30.000).

Das hinterließ so viele Spuren, dass Archäologen empfahlen, künftige Kollegen sollten sich am „Coca-Cola-Layer“ orientieren, oder an Kronenkorken von Bierflaschen. Letzteres war nur eine regionale Idee für Alaska, aber auch die bis in die hintersten Winkel verbreiteten Cola-Flaschen gäben kein zureichendes Bild: Die geologischen Marker eines Zeitalters müssen im Erdboden stecken, rund um den Globus und auf Dauer. So war das etwa am Ende der Kreidezeit, als die Dinosaurier ausgelöscht wurden: Ein Asteroid schlug in die Erde ein, er brachte viel Iridium – auf der Erde ist es rar –, es hinterließ allerorten in Gesteinen eine Iridiumanomalie. Gibt es Analoges für ein Anthropozän? Und wann könnte es überhaupt begonnen haben? Nach den Umweltkundlern entdeckten die Archäologen das Thema: William Ruddiman (University of Virginia) sieht den anthropogenen Umbau der Erde vor 11.000 Jahren beginnen, in der Neolithischen Revolution, in der die Menschheit die Landwirtschaft erfand und durch Rodungen erstmals großflächig CO2 freisetzte. Andere wollen weiter zurück und setzen auf die Zeit vor 60.000 Jahren, als die Menschen von Afrika aus die Welt erwanderten.

Aber so einschneidend diese Umbrüche waren, unmittelbare globale Folgen hatten sie nicht, und vor allem fehlte ihnen etwas, woran eine neue Zeit sich heftet bzw. geheftet wird: eine Markierung im Gestein, so eine wie die Iridiumanomalie, die wird vom ICS symbolisch mit einem goldenen Nagel geschmückt. Wo sollte ein „Golden Spike“ für das Anthropozän hin? In den Fallout der Atombomben! Am 16. Juli 1945 zündeten die USA die erste, zum Testen – kurz darauf kamen Hiroshima und Nagasaki –, die Sowjetunion zog nach, bis in die 1960er-Jahre gab es überirdische Tests sonder Zahl. Die Spuren sind überall, sie decken sich ungefähr mit dem Beginn der „großen Beschleunigung“, und werden trotz Zerfalls der Radioisotopen hunderte Millionen Jahre bleiben. Viele plädieren für diesen Marker, auch Crutzen tut es inzwischen.

Und die Geologen? Die haben seit 2009 eine „Working Group on the Anthropocene“, Zalasiewizc präsidiert, er neigt zum Anthropozän – sieht „starke Hinweise darauf, dass wir eine Epochengrenze überschritten haben“ –, andere sehen keinen Grund zur revolutionären Ungeduld. In Berlin haben sie nun erstmals offiziell getagt, Berichtenswertes kam nicht heraus, außer einem neuen Namensvorschlag, mit ihm machte die „Guardian“-Journalistin Kate Raworth aus der Not eine Tugend: Unter den 29 Mitgliedern der Arbeitsgruppe ist nur eine Frau: Da möge man das Anthropocene doch lieber gleich Manthropocene nennen!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.