Macht Milch munter?

(c) Erwin Wodicka - BilderBox.com
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Mit dem Saft des Lebens steuern Mütter die Entwicklung, auch die des Charakters. Zumindest tun sie das bei Rhesusaffen, mit Stresshormonen.

Für die Fulbe, Rinderhalter in Mali, war „am Anfang ein großer Tropfen Milch“, mit ihm begann die Schöpfung auf Erden, anderswo wurde gleich der ganze Himmel damit bespritzt: Zeus war wieder einmal fremdgegangen und hatte mit einer Irdischen, Alkmene, einen Sohn gezeugt, Herkules. Den wollte er mit göttlicher Milch unsterblich machen, er hielt ihn an die Brust der schlafenden Hera. Die erwachte, warf den Bankert von sich, die Milch schoss ihm nach, so entstand die Milchstraße.

Aber das ist es schon fast, viel mehr ist der besondere Saft, der uns als Erstes nährt, kaum in die Mythen eingegangen. Na ja, Rom wurde an den Zitzen der Wölfin stark, und die Ziege Heidrun ließ in Walhall gar die Toten leben (mit Met!), anderswo machten sich Notleidende auf ins Land, in dem Milch fließt, und Honig dazu. Aber das ist es dann wirklich, und diese – regionale – Begrenzung hängt natürlich damit zusammen, dass nur wenige Völkerschaften im Erwachsenenalter das vertragen, was wir gemeinhin „Milch“ nennen: Milch von Tieren. Die der eigenen Mütter bekommt allen Babys, sie spalten die darin enthaltene Laktose in andere Zucker – Galaktose und Glukose –, mit dem Enzym Laktase. Dessen Produktion nimmt mit dem Heranreifen ab, die Folgen bekamen zunächst die zu spüren, die Tiere domestizierten, vor 9000 Jahren im Nahen Osten.

Das Fleisch mundete ihnen, die Wolle wärmte sie, aber von der Milch wurde ihnen übel. Sie fanden Abhilfe, erst eine technische, dann eine biologische. Die eine bestand darin, die Milch zu verarbeiten, zu Joghurt und Käse, vor allem in hartem ist kaum mehr Laktose; die andere kam mit einer Genvariante, die die Laktaseproduktion am Laufen hält. Die verbreitete sich nach Europa, in Afrika entstanden äquivalente Varianten, etwa bei den Nube, der Rest der Welt leidet an Laktoseintoleranz. Die breitet sich in der letzten Zeit auch in Europa aus, explosionsartig, oft mag sie ein Symptom des „Morbus Google“ sein – das ist ein Sammelname für Leiden, die User nach Konsultation des Internets an sich selbst diagnostizieren –, aber der Lebensmittelindustrie kommt der Verdacht nicht ungelegen, in der Milch sei zu viel von irgendetwas. Sie spaltet für ihre laktosefreien Spezialitäten den Zucker vorweg auf, mit Laktase von Bakterien und Hefe (Vorsicht, Hefeallergiker!).

Oder sollte man Milch gleich ganz weglassen, droht sie mit viel Ärgerem als Übelkeit: mit Knochenbrüchen und frühem Tod? Zu der Sorge gibt Karl Michaëlsson (Uppsala) Anlass, der Daten von 100.000 Schweden ausgewertet hat, die über Jahre ihre Ernährung zu Protokoll gaben: Von anfangs 61.433 Frauen waren nach 20 Jahren 15.541 verstorben, 17.252 hatten Knochenbrüche erlitten. Die Zahlen lagen bei denen mit hohem Milchkonsum (drei oder mehr Gläser am Tag) höher als bei denen mit nur einem Glas, sowohl bei der Sterblichkeit – vor allem durch Herzleiden und Krebs – als auch bei Knochenbrüchen, bei Männern war der Trend schwächer (British Medical Journal, 28.10.). Das widerspricht aller Lehrbuchweisheit vom Segen der Milch – auch und vor allem für die Knochen –, und es ist nur eine Korrelation, denn es könnte sein, dass Menschen mit ohnehin schwachem Herzen und brüchigen Knochen vermehrt zu Milch greifen. Michaëlsson rät zu „vorsichtiger Interpretation“ seines Befundes, Mary Schooling (New York) fordert in einem Kommentar, „dass die Rolle der Milch bei der Sterblichkeit definitiv geklärt werden muss“.


Erst Eibefeuchter. Aber was immer sie mit dem Ende zu tun haben mag, am Anfang ist sie unverzichtbar, am Anfang des individuellen Lebens und an dem der Säugetiere. Die entwickelten sich aus Synapsiden, das waren Reptilien, die, wie die heutigen auch, Eier legten, Eier ohne harte Schale, sie haben eine durchlässige Membran. Die bringt Austrocknungsgefahr, heutige Reptilien legen deshalb in feuchte Erde. Aber beim Übergang der Synapsiden zu den Säugern brachte ein Klimawandel Wärme, und die Säuger selbst brachten auch Wärme, sie waren ja endotherm, und sie brüteten vermutlich die Eier aus.

Also mussten sie sie feucht halten, mit einer Vorform der Milch. Diese Hypothese entwickelte schon Darwin – anhand von Schnabeltieren und Beuteltieren, die Eier legen –, ausformuliert wurde sie 2002 von Olav Oftedal (Smithsonian): Versorgt wurden die Eier zunächst nur mit Feuchtigkeit, Nährstoffe von außen brauchten die Jungen nicht, die waren ja in den Eiern, im Eiweiß. Das wurde in einem zweiten Schritt umgebaut, in das Eiweiß der Milch. Die reicherte sich zu einer breiten Palette an, auf der Basis von Wasser (87,6 Prozent): 3,8 Prozent sind Fette, ein Prozent Proteine – darunter Kaseine, sie bündeln sich, diese Struktur gibt der Milch die Farbe –, sieben Prozent Zucker, die Zahlen gelten für Menschen, jedes Säugetier mischt anders, dann kommen natürlich noch Spurenelemente wie Kalzium dazu, und Zellen für das Immunsystem, und Bakterien für den Darm, die Rezeptur ändert sich mit dem Alter, so wird die Entwicklung der Kleinen fein gesteuert.

Und das Verhalten obendrein: In Milch sind auch Stresshormone – die machen keinen Stress, sondern stellen den Körper auf ihn ein –, Glukokortoide, Cortisol etwa. Bei dem wusste man schon, dass die Konzentration in der Milch den Charakter bzw. das Temperament der Jungen mitbestimmt, je nach Geschlecht: Hohe Dosen machen Söhne aktiv und neugierig, Töchter furchtsam und traurig, so ist das bei uns und bei Affen, bei Ratten ist es ähnlich, es wurde schon oft analysiert.

Aber immer fehlte eines: Man sah nicht auf den Energiegehalt der Milch. Kartie Hinde (Harvard) hat es getan, bei Rhesusaffen: Die zeigen den Jungen mit Cortison, wie viel Energie sie liefern können. Ist es wenig, sind die Gehalte hoch, das macht die Jungen ängstlich – und sie setzen doch rascher Gewicht an (Behavioral Ecology, 31.10.). Das Paradox löst sich so: Diese Jungen sind – in beiden Geschlechtern – weniger neugierig, sie tollen kaum herum. So folgen sie der Botschaft des Cortisol: „Prioritize growth, kiddo“ (Hinde). Und wann und warum kommt die Botschaft überhaupt? Sie kommt von jungen Müttern, die haben noch wenig Milch, auch ihre Zitzen sind noch nicht ganz fertig.

Laktoseintoleranz mag oft ein Symptom eines ganz neuen Leidens sein: »Morbus Google«

Mit Cortisol signalisieren Affenmütter den Jungen, wie viel Milch sie liefern können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2014)

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