Deltas: Auf sinkendem Grund

Nildelta
Nildelta(C) NASA
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Vor etwa 7000 Jahren entstanden die Deltas, und lang blieben sie biogeophysikalisch in Balance. Erst Eingriffe des Menschen brachten sie in Not.

Fünf Faktoren gehen in eine Rechnung ein, die über das Leben von Millionen entscheidet: ΔRSL = A – ΔE – CN – CA ± M. A, das ist die Aggradation oder auch Anlandung. Sie zeigt, wie viel Sedimente Flüsse an ihre Mündung bringen bzw. dort ablagern. ΔE fasst das Steigen des Meeresspiegels, C meint Compaction, Verdichtung, entweder durch die Natur (CN) oder den Menschen (CA). M endlich ist das Maß für die Erhöhung oder Absenkung der ganzen Region, etwa durch seismische Prozesse.

Hat man alle Faktoren, kann man sie zu ΔRSL verrechnen, dem Wandel der Höhe eines Flussdeltas relativ zu jener des Meeresspiegels. Das klingt trocken, wappnet aber auch für Emotionen, die einen überfallen, wenn man sieht, was passiert, wenn ein Delta ins Minus rutscht, weil kein neues Sediment mehr kommt und das alte sich verdichtet und verdichtet wird: „Ich war schockiert, als ich realisierte, dass der Nil nicht mehr ins Meer floss“, erinnert sich Daniel Stanley (Smithsonian) an die Achtzigerjahre, in denen er bemerkte, dass Salzwassermuscheln die Nilmündung 30 Kilometer hinaufgewandert waren (Science 327, S.1445).

Betrachtet man alles von oben, via Satellit, dann hört der Nil bald nach Kairo auf, er verzweigt sich in ein Netzwerk von über 10.000 Kilometern Bewässerungsgräben. Nur die alte Form hat die Region noch, jene des griechischen Δ. Danach wurde sie benannt, Herodot hat es überliefert (Historien 2, 13).

Zu seiner Zeit war der Fluss Herr über Leben und Tod: Er brachte fruchtbare Sedimente und Hochwasser, sieben fette und sieben magere Jahre. Die Bibel hat wieder einmal fast recht, die Wasserführung schwankte in einem Rhythmus von vier bis elf Jahren. Damit war es 1970 vorbei, hoch oben am Nil staute sich hinter dem Assuan-Damm der Nasser-See, er brachte regulierten Abfluss. Die andere Seite bekamen zunächst die ganz unten am Fluss zu spüren: Die reiche Fischerei vor dem Delta brach zusammen, es kamen keine Nährstoffe mehr. Das Problem löste sich wie von Zauberhand, denn die Abwässer der wachsenden Metropole und der Kunstdünger der intensivierten Landwirtschaft sprangen ein. Dann kamen andere Sorgen, härtere: Das Delta sank, und es sinkt immer noch.

Auch am Ganges, am Gelben Fluss, am Mississippi ist es so, das Delta des Po sackte im 20. Jahrhundert um drei bis fünf Meter ein, das des Chao Phraya– bei Bangkok – sinkt bis 15 Zentimeter im Jahr. Ausnahmen bilden nur unregulierte Flüsse wie Kongo und Orinoko. Ansonsten bricht allerorten zusammen, was geologisch jung und eine der dynamischsten Formen der Erde ist. Der Zufallsname des mathematischen Zeichens Δ, das für Bewegung steht, passt gut: Alle Deltas sind gleich alt, sie entstanden vor 7000 Jahren, da pendelten sich die Meere auf den heutigen Stand ein. Zuvor, in der Eiszeit, war so viel Wasser in Gletschern gebunden, dass die Meeresspiegel hundert Meter tiefer lagen, die Flüsse zogen sich weit hinaus, bis an den Rand des Kontinentalsockels; dort gingen ihre Frachten in die Tiefe.


Hohes Land, hohe Kultur. Dann stiegen die Meere und brachten einen biogeophysikalischen Balanceakt in Gang: Das Gefälle der Mündungen wurde geringer, die Schleppkraft des Wassers sank, Sedimente setzten sich ab, wuchsen und ließen Pflanzen wachsen, die für Stabilität und weiteres Wachstum sorgten. Fruchtbar war das in jeder Hinsicht: In Deltas und zeitgleich mit ihnen entstanden die ersten Hochkulturen, immer bedroht von den Flüssen selbst und den Meeren bzw. den Stürmen, die sie gegen das Land peitschten.

Freie Bahn bekamen sie allerdings erst, als der Mensch in die Balance eingriff. Am verheerendsten zeigte sich das zuletzt, als Hurrikan Katrina über New Orleans fegte. Riesige Feuchtgebiete waren trockengelegt worden, Gas- und Ölförderung hatte Böden einsinken lassen. Die Flussregulierung führte schließlich zum Unheil: Man hatte die Mündung auf einen Kanal reduziert und alle Seitenzweige abgeschnitten. Durch den Kanal schoss das düngergesättigte Wasser ins Meer und sorgte für die „Todeszone“ im Golf von Mexiko.

So ist es am Mississippi, an anderen Orten ist die Sache anders gelagert: Am Po war es die Erdgasförderung, in Bangkok holte man zu viel Grundwasser aus der Tiefe. Nur in zweierlei Hinsicht sind alle Deltas gleich: Sie sind extrem fruchtbar – in ihnen lebt eine halbe Milliarde Menschen, oft eng gedrängt –, und sie brauchen Segen von oben, von oben am Fluss: Sediment. Beim Nil kommt heute 98 Prozent weniger Sediment, beim Indus 96, bei der Rhone 85 und bei der Donau 60. Das sorgt dafür, dass jetzt schon viele Regionen unter dem Meeresspiegel liegen – und weiter viel rascher sinken, als er steigt. Im 20. Jahrhundert tat er das um 1,8 Millimeter pro Jahr, für 2100 prognostiziert der UNO-Klimabeirat IPCC 26 bis 82 Zentimeter – darauf starren alle. Deltas haben keine Lobby.

Nur eine Handvoll Hydrologen strampelt sich ab: Liviu Giosan etwa (Woods Hole) und James Syvirski (University of Colorado). Sie haben gerade in Nature an die UNO appelliert und einen detaillierten Maßnahmenkatalog vorgelegt (516, 31). Er wird verhallen wie das „Jahr der Deltas“, das sie 2013 ausgerufen haben.

Denn die Aufgabe ist herkulisch. Man müsste eindeichen – beim Rheindelta haben die Niederlande fünf Milliarden Euro aufgebracht –, man müsste rückbauen – das geschieht am Mississippi –, und man müsste umsiedeln. Grundsätzlich kann eine Rettung auch in armen Regionen gelingen, das zeigt sich am Donaudelta. Dort gibt es zwar nur 40 Prozent der früheren Sedimente, aber das ist genug, wenn sie gut verteilt werden. Dafür hat man neue Kanäle gezogen, die große Seen im Delta miteinander verbinden (Anthropocene 1, S.35). Das ist gelungen, aber ein Modell für den Nil etc. ist es nicht: Es konnte nur gelingen, weil das Donaudelta dünn besiedelt ist und mit dem Zusammenbruch des Ceauşescu-Regimes in Rumänien auch die Nutzung des Deltas durch die Fischindustrie zusammengebrochen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2015)

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