Kulturwissenschaft: Achill war nichts ohne Homer

Aleida Assmann
Aleida Assmann(c) Die Presse (FABRY Clemens)
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Was prägt Generationen? Wie werden Helden? Wurden die 68er genug gezaust? Ein Gespräch mit der Professorin für Kulturwissenschaft Aleida Assmann, die am Montag in Wien geehrt wird.

Die Presse: In Ihrem „kleinen Generationenbrevier“ definieren Sie z.B. die „68er“-Generation als die Jahrgänge von 1940 bis 1950. Das heißt, die eine Generation prägenden Ereignisse finden in einem Alter von 18 bis 28 statt. Muss das so sein? Ist das typisch menschlich?

Aleida Assmann: Die Theorie der historischen Generationen geht davon aus, dass Menschen in der Jugendzeit Erfahrungen machen, die für ihr ganzes Leben von Bedeutung bleiben: Was man in der Jugend erlebt hat, gräbt sich tiefer in die Erinnerung ein, prägt die ganze Persönlichkeit. Das liegt an der tieferen gefühlsmäßigen Aufnahmefähigkeit in diesem Lebensabschnitt.

Der „85er-Generation“ schreiben Sie als „Schlüsselerlebnisse“ Aids, Tschernobyl, die Perestroika und den Mauerfall zu. Was könnten die Schlüsselerlebnisse der nächsten Generation sein? 9/11? Die Subprime-Krise?

Assmann: Ja. Dazu technische Entwicklungen wie Handy und i-pod, Entwicklungen des Internets wie Blogs, Facebook, YouTube. Aber auch Amokläufe an Schulen.

Ebenso die „Entschlüsselung“ des Genoms?

Assmann: Solche wissenschaftlichen und technischen Durchbrüche prägen die Jugendlichen nur, wenn sie nachvollziehbar in ihre Lebenswelt eingreifen. Ich habe als Jugendliche die Mondlandung live in Fernsehen verfolgt. Auf meinen Alltag haben sich aber nur die Teflon-Kochtöpfe ausgewirkt, die ein Abfallprodukt der Raumfahrt waren.

Jede Generation definiert sich auch durch die Abwendung von der vorigen. So gesehen, war es 2008 für das „68er Bashing“ à la Götz Aly eigentlich zu spät. Sehen Sie schon Anzeichen für eine Kritik an den „85ern“?

Assmann: In der Tat, die 68er hatten schon von den 78ern einiges abbekommen, bevor einige wie der Renegat Götz Aly anfingen, sich selbst zu demontieren. Die Härte im Umgang mit den 68ern bezeugt meines Erachtens aber nur eines: die epochale und nachhaltige Wirkung dieser Generation, mit der vorerst keine weitere mitkommt. Die 85er sind eine Generation mit Habitus und Lebensstil, aber keine Bewegung. Deshalb kann man sich von ihnen auch nicht so markant abgrenzen.

Steckt eine solche Kritik in der Abwendung vom Vertrauen auf die freie Marktwirtschaft? Oder ist das nur eine zufällige Koinzidenz?

Assmann: Die 85er waren eine Generation, die sich durch den Zusammenbruch des Staatskommunismus definierte – und sich damit auch von den Ideologien der 68er absetzen konnte. Jetzt erlebt eine neue Generation den Zusammenbruch des Kapitalismus: eines Systems, das nach 1989 in alternativenloser Selbstverständlichkeit und Selbstherrlichkeit geherrscht hatte. Das wird sicher Folgen in den Grundeinstellungen haben.

In Ihrem Buch „Der lange Schatten der Vergangenheit“ konstatieren Sie einen „Wandel in der Konstruktion der nationalen Gedächtnisse“: hin zur „von Opfern und Tätern geteilten Erinnerung“ – und zur Geste der „Entschuldigung“ für Verbrechen. Ist das nicht vor allem eine Folge der exzeptionellen Stellung der NS-Verbrechen?

Assmann: Die exzeptionelle Stellung der NS-Verbrechen spielt gewiss eine zentrale Rolle. Aber dieser Wandel ist ein globales Phänomen, er schließt auch die Traumata der Kolonialgeschichte ein. In Australien und Kanada fanden vor Kurzem politische Entschuldungs- und Bußrituale statt, an denen nicht nur Politiker beteiligt waren. Man erkannte das Leiden der indigenen Bevölkerung an und identifizierte sich mit ihrem Leiden, um die Gesellschaft auf eine neue „postkoloniale“ Grundlage zu stellen.

Eric Hobsbawm nannte das 20. Jahrhundert ein kurzes Jahrhundert – und datierte sein Ende mit 1989. Sind solche Deutungen haltbar – oder reflektieren sie nur momentane Trends der Geschichtsschreibung?

Assmann: Sicher ist 1989 ein epochaler Einschnitt. Es ist das Ende der Nachkriegszeit, des Kalten Krieges, der ja die Folge des Zweiten Weltkrieges war, der wiederum eine direkte Folge des Ersten Weltkrieges war. Aus dieser Logik dieser Folgeerscheinungen sind wir herausgekommen – nicht zuletzt durch eine neue Erinnerungskultur.

Im Film „Operation Walküre“ über das Stauffenberg-Attentat gebe es „keine Helden mehr“, schrieb die „Presse“. Wie sehen Sie das?

Assmann: Ich sehe hier im Großformat die Hollywood-Konstruktion eines neuen Heldentyps: der Widerstandskämpfer. Das Narrativ des Films ist deshalb so angelegt, dass Stauffenberg die Sache mehr oder weniger im Alleingang macht. Eine solche Perspektive ist in den Massenmedien viel leichter zu vermitteln als das Porträt des ganzen komplexen Kreises, aus dem diese Handlung hervorging. Das kann nur ein Buch leisten.

Wurden historische Figuren nicht einst, in der Antike, erst allmählich, mit wachsender zeitlicher Distanz, zu Helden?

Assmann: Helden sind sicher, so wie Stars, ein Rezeptionsphänomen. Aber wir dürfen die Helden nicht vergessen, die es darauf anlegen, es zu werden: wie die Sportler und Dichter im antiken Griechenland, die sich durch Wettkämpfe hervortaten – und dann durch andere Dichter gerühmt wurden. Ruhm war in der Antike eine exklusive Gabe der Dichter: Ein Achill war nichts ohne seinen Homer. Heute entstehen die Helden durch Filme und die Boulevardpresse.

Wird die Serie der Filme, die sich mit Hitler-Deutschland befassen, irgendwann abreißen?

Assmann: Vermutlich nie. Wir haben es mit einer extrem heißen Phase der Geschichte zu tun, für deren Abkühlung es vorerst keine Anzeichen gibt. Dazu tragen auch die vielen Departments an amerikanischen Universitäten bei, die das Fach „Germanistik“ inzwischen auf „(Hitler-)Film Studies“ umgestellt haben. Damit können sie sich des Zulaufs der Studierenden gewiss sein.

Wie lange wird die NS-Zeit noch unter „Zeitgeschichte“ fallen?

Assmann: Die NS-Geschichte ist längst in den Zustand ihrer Mythisierung übergegangen. Das heißt, sie ist in den Rang einer geschichtlichen Epoche erhoben worden, die sich nicht irgendwann in die allgemeine Historisierung verflüchtigt, sondern ein stabiler Bezug für die Gegenwart bleibt.

Das kollektive Gedächtnis hängt ja auch von seinen Trägermedien ab. Die digitalen Medien haben aber etwas Flüchtiges an sich, können dauernd verändert werden. Wird das die Erinnerungen unzuverlässiger machen?

Assmann: Mit dem Internet haben sich die Voraussetzungen für das Erinnern grundsätzlich verändert. Dieses Medium ist flüssiger, flüchtiger und unzuverlässiger, aber auch basisdemokratischer: Es geht an den professionellen „Türwächtern“ vorbei, die den Zugang zu den offiziellen kulturellen Verewigungs- und Gedächtnisinstitutionen kontrollieren: den Jurys, Archiven, Bibliotheken, Museen, Denkmälern, Geschichtsbüchern.

Sie konstatieren den Übergang von der „Väterliteratur“ zu „Familienromanen“. Mit Uwe Tellkamps „Der Turm“ ist 2008 noch ein – viel gelobter – Familienroman, allerdings über die DDR-Zeit, erschienen. Passt er ins Bild?

Assmann: Ein Ende der Konjunktur dieser Gattung ist noch nicht abzusehen. 2009 ist von Reinhard Jirgl mit „Die Stille“ wieder ein bedeutendes Exemplar erschienen.

Der archetypische deutsche Familienroman ist ja Thomas Manns „Buddenbrooks“. Schwebt das Thema vom Verfall, vom Abstieg, heute nicht mehr über dem Genre?

Assmann: Ich sehe schon Unterschiede zwischen dem Mannschen Familienroman und dem, was wir heute in dieser Gattung zu lesen bekommen. Damals ging es darum, den – damals allseits thematisierten – Niedergang von Gesellschaft und Kultur im Prisma einer Familiengeschichte zu spiegeln. Das Was stand fest, das Wie war auf eine neue Weise interessant. Heute dient die Familiengeschichte als eine Art Sonde, mit der man in eine noch weitgehend unverstandene, verwickelte, traumatische Geschichte hineinsticht. Dabei hofft man das, was man dabei herausspiegelt, nachträglich besser fassen, vielleicht sogar nacherleben zu können.

Wien: Ehrung, Vorlesung

Aleida Assmann, geb. 1947 in Bielefeld, Professorin für Literaturwissenschaft an der Uni Konstanz, forscht über kulturelles Gedächtnis. Zuletzt erschienen: „Geschichte und Gedächtnis“ (2007).

Am Montag (19 Uhr) erhält sie im Wiener Rathaus den Paul-Watzlawick-Ehrenring der Ärztekammer Wien. Danach hält sie eine „Wiener Vorlesung“, Thema: „Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2009)

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