Wie Religionen die Identität prägen

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kreuz und quer(c) ORF (Lion Television)
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Geschichte. Mittelalterforscher der Uni Wien erkunden, wie die Weltreligionen Christentum, Buddhismus und Islam die Bildung von Gemeinschaften beeinflusst haben.

Wie entwickelten sich in der Geschichte Identitäten und Gemeinschaftsformen? Eine Frage, die sich ohne Blick auf die Entwicklung der Religionen nicht beantworten lässt. In einem eben verlängerten Projekt des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF untersucht ein interdisziplinäres Forschungsteam, wie drei Universalreligionen – Christentum, Islam und Buddhismus – die Herausbildung einzelner Gemeinschaften und Identitäten im Mittelalter beeinflusst haben.

Der Schwerpunkt der Forschungsarbeit liegt auf Europa, Südarabien und Tibet. „Mit der wachsenden politischen Rolle des religiösen Fundamentalismus, nicht nur im Islam, hat unser Forschungsprojekt an Brisanz gewonnen“, sagt Walter Pohl vom Institut für Geschichte der Universität Wien und Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Gemeinsam mit Andre Gingrich vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Uni Wien sowie vom Institut für Sozialanthropologie der ÖAW leitet er den Spezialforschungsbereich Visions of Community, kurz Viscom.

Gemeinsamkeiten wirken nach

„Unterschiede und Gemeinsamkeiten wirken bis heute nach“, entschärft Walter Pohl die Frage, was das Mittelalter mit dem heutigen Leben gemeinsam habe. Ein Fokus der Forschung liegt auf den verschiedenen Ethnien. Das sich entwickelnde Abendland gliederte sich nach dem Zerfall des römischen Imperiums in ethnische Herrschaftsgebiete: etwa in das der Angelsachsen, der Franken, der Polen oder der Ungarn. Darauf bauten die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts auf. Doch das ist ein Spezifikum Europas.

In der islamischen Welt wäre man nicht auf die Idee gekommen, politische Herrschaft mit einer ethnischen Zugehörigkeit zu begründen, sehr wohl aber mit der Abstammung aus bestimmten Dynastien, vor allem aus dem Stamm des Propheten. Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts wie der Irak, Syrien und Libyen waren wiederum koloniale Konstruktionen.

Weiters verglichen die Wissenschaftler Klöster und religiöse Einrichtungen in verschiedenen Regionen. Dabei zeigte sich, dass Klöster in Tibet und Europa ähnliche Funktionen erfüllten: Sie waren Rückzugsräume, in denen eine asketische Lebensweise gepflegt und Wissen weitergegeben wurde. Sie interagierten zudem stark mit ihrer Umgebung und finanzierten sich aufgrund von Schenkungen begüterter Familien.

Im Jemen hingegen gab es keine Klöster mit asketischem Anspruch und institutioneller Festigkeit: Dort zogen sich Gelehrte in sogenannte Hijras, meist Dörfer, die als Stätten des Lernens und Lehrens genutzt wurden, zurück.

Wie wuchsen die Städte?

Auch die Ausbildung der Städte verlief unterschiedlich. Die europäischen Städte im Mittelalter waren Gemeinden der Bürger, oft mit Selbstverwaltung. Die islamischen Städte hingegen wurden direkt von einem Stadtherrn verwaltet. Westliche Städte bildeten sich üblicherweise um Kirchen und Märkte. In Tibet hingegen waren oft Klöster Zentren der Siedlungsgemeinschaft.

Die Herausforderung für die Forscher im Projekt: „Die Gemeinsamkeiten sind nicht in großen pauschalen Begriffen wie Religion, Kultur, Nation oder Staat festzumachen.“ Die Begriffe müssten historisiert und diversifiziert werden. Das bedeutet? „Dass wir zwischen für uns sinnvollen wissenschaftlichen Begriffsinhalten, ihrer Anwendbarkeit auf verschiedene Gesellschaften sowie den zeitgenössischen Vorstellungen, die ihnen entsprachen, unterscheiden müssen“, so Walter Pohl.

LEXIKON

Sozialanthropologie befasst sich mit dem Menschen und seinen sozialen Beziehungen zu seinem kulturellen Umfeld. Sie untersucht die sozialen Strukturen in einer Gesellschaft. Der Mensch wird als Teil einer Gesellschaft und ethnischen Gruppe verstanden, die prägend auf ihn einwirken.

Eine Ethnie ist eine Menschengruppe, die durch eine kollektiv zugesprochene Identität gekennzeichnet ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2015)

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