Neue Disziplin: Wird Wien ein Hub der Komplexitätsforschung?

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In der Bundeshauptstadt soll ein Komplexitätszentrum entstehen. Die Auftaktkonferenz zeigte, wie vielfältig – und zum Teil dringlich – die Fragen sind, zu deren Beantwortung die junge Wissenschaft beitragen möchte.

Es hat etwas von Gebetsmühle, und kann doch nicht oft genug wiederholt werden: Die Menschheit steht vor gewaltigen Herausforderungen. Klimawandel und Finanzkrise, Gesundheitssysteme, die auch nach demografischen Umbrüchen finanziert sein, und Großstädte, die trotz Bevölkerungswachstums lebenswert bleiben wollen. Fragen zur Zukunft von Mobilität, zu Bildung, Sicherheit, Medizin, Biodiversität, Energieversorgung oder Flüchtlingsströmen. Alle stehen gleichzeitig an, drängen immer drängender.

Ein Punkt eint diese unterschiedlichen Themenfelder: Jedes einzelne ist ein komplexes System, fast jedes ein offenes komplexes System, also mit anderen komplexen Systemen in Wechselwirkung. Diese (Multi-)Komplexität war jahrhundertelang ein Problem, da sie sich mit menschlichem Verstand nicht durchdringen und schon gar nicht in ihrer Entwicklung vorhersagen lässt.

Doch das ändert sich gerade. Denn die Menschheit 2.0 sammelt in nie gekanntem Ausmaß Daten zu (fast) allem. Und sie entwickelt die Werkzeuge, um diesem Bit-and-Byte-Wust sinnvolle – vor allem auch gesellschaftlich relevante – Informationen zu entlocken. „Wir werden immer mehr Leute brauchen, die Daten mathematisch und technisch beherrschen“, so Stefan Thurner, der den derzeit einzigen österreichischen Lehrstuhl für Complexity Science innehat. „Vor allem aber müssen wir die richtigen Fragen stellen. Sie sind das Nadelöhr unserer Wissenschaft.“

Netzwerke kontrollieren

Um das im größeren Stil tun zu können, soll in Wien ein Zentrum der Komplexitätsforschung entstehen. Auftakt zum Complexity Science Hub Vienna, so der vorläufige Name, war eine Konferenz am 9. und 10. Februar, die zeigte, wie vielfältig die Themen der noch jungen Disziplin sind.
So berichtete der Netzwerkforscher Albert-László Barabási über Forschungen zur Kontrolle von Netzwerken. „Jedes Netzwerk kann kontrolliert werden, wenn jeder einzelne Knoten kontrolliert wird. Das ist aber nicht machbar. Also will man die zentralen Punkte, die Hubs, finden, über die maximale Kontrolle möglich ist.“ Bei ansteckenden Krankheiten könnten das Flughäfen sein – oder Rituale wie das Waschen von Toten, bei denen sich die Menschen anstecken.

Gerhard Schmitt von der ETH Zürich zeigte, wie sich durch Kombination verschiedenster Daten lebenswertere Städte designen lassen, Ricard Solé von der Uni Pompeu Fabra in Barcelona, wie sich Probleme der synthetischen Biologie mit der neuen Wissenschaft leichter lösen ließen. Der heute in Boston tätige frühere Thurner-Mitarbeiter Michael Szell führte anhand des online gespielten Computergames „Pardus“ aus, wie Theorien der Sozialwissenschaften durch Daten sozialer Netzwerke empirisch be- oder widerlegt werden können.

„Big Data löst oft Angst aus“, so Helga Nowotny, bis Ende 2013 Präsidentin des European Research Council und eine der treibenden Kräfte hinter der Wiener Initiative. „Doch diese Disziplin erlaubt uns Einblicke in die unbeabsichtigten Konsequenzen menschlichen Handelns. Darum ist sie so wichtig.“ Die Technischen Unis Graz und Wien, die Med-Uni Wien, das IIASA in Laxenburg und das Austrian Institute of Technology AIT werden sich substanziell an dem Hub beteiligen. Die Stadt Wien hat passende Räumlichkeiten zugesichert.

Lexikon

Komplexität. Die Teile komplexer Systeme stehen miteinander in ständiger, nicht linearer Wechselwirkung.
Selbst kleinste Veränderungen beeinflussen das Ganze. Ihre speziellen Eigenschaften lassen sich aus den Einzelteilen nicht ableiten.

Die Systeme sind robust. Doch wird eine kritische Grenze überschritten, verwandeln sie sich rasch, dramatisch und unumkehrbar – wie Wasser zu Eis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2015)

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