Eine Sinfonie mit gewissen Extras

Informatik. Klassische Musik bietet oft viel mehr, als man im ersten Moment hört. Österreichische Wissenschaftler haben ein System entwickelt, mit dem Computer punktgenau Zusatzinformationen anbieten können. Die Premiere ist geglückt.

Als sich Richard Strauss als Kind 1879 auf dem Heimgarten in den Bayerischen Voralpen verstieg, kam er in ein wildes Gewitter. Eine Erfahrung, die ihn dazu inspirierte, die Alpensinfonie zu komponieren. Sie beginnt mit der Bergbesteigung bei Nacht, beschreibt die Wanderung im Wald, neben dem Bach und auf Blumenwiesen bis auf die Alm. Dann führt Strauss den Zuhörer durch Dickicht und Gestrüpp über Irrwege Richtung Gipfel, wo schließlich ein Sturm aufzieht. Das Stück ist in 22 Szenen gegliedert, dauert rund 50 Minuten, und über hundert Musiker werden gebraucht, um die vielen verschiedenen Facetten wiederzugeben.

Fast verstiegen haben sich auch die Wissenschaftler, als die Alpensinfonie in der Vorwoche Teil einer besonderen Premiere war. Zum ersten Mal sollte dazu in Amsterdam im Konzertsaal ein von österreichischen Forschern entwickeltes Computersystem getestet werden: eine Software, die eine Sinfonie auf den Takt genau verfolgt und für vorab ausgewählte Besucher ergänzende Erklärungen und Videos zum Stück am Tablet-PC liefert. „Bei der Generalprobe funktionierte keiner der Tests, die technische Infrastruktur vor Ort war einfach noch nicht bereit“, sagt Informatiker Gerhard Widmer vom Institut für Computational Perception an der Uni Linz.

Maschinen lernen hören

Computational Perception bedeutet wörtlich übersetzt Computerwahrnehmung: Der Computer soll– unabhängig von Tempo und Interpretation – erkennen, wo die Musiker im Stück sind. Wie der Mensch nimmt er Reize, in diesem Fall Schallwellen, auf und verarbeitet sie. Er vergleicht die wellenförmigen Audiosignale mit dem Notentext. Das muss blitzartig „in Echtzeit“, also ohne jegliche Verzögerung passieren. Denn nur, wenn der Computer dem Klangkörper schnell und richtig folgt, können die zusätzlichen Informationen für das Publikum zum passenden Zeitpunkt „live“ eingespielt werden.

Wie bringt man einem Computer das Hören bei? „Dazu braucht es eigentlich nur relativ einfache Mikrofone“, sagt Widmer, der auch am Österreichischen Institut für Artificial Intelligence, also künstliche Intelligenz, in Wien tätig ist. Weit komplexer ist die Software: In Computerprogramme eingebettete Algorithmen sind die Werkzeuge, mit denen Informatiker Probleme lösen. „Ob sich eine Idee bewährt, zeigt sich erst, wenn sie auch im Experiment funktioniert“, so Widmer. In diesem Fall im ganz großen Stil: mit dem Königlichen Concertgebouw-Orchester in Amsterdam, das als bedeutendstes Orchester in den Niederlanden und als eines der bedeutendsten der Welt gilt.

Umso spannender sei die Premiere dann auch gewesen, sagt Widmer. Er vergleicht das Experiment mit der Rosetta-Mission: Nach langer Vorarbeit sei das „der erste Test in der wirklichen Welt“ gewesen, der zeigen sollte, ob die verwendeten Methoden robust genug sind. Wie Weltraumforscher nach der Landung der Weltraumsonde Philae auf dem Kometen Tschuri habe man gespannt darauf gewartet, ob die Datenübertragung klappt. Schließlich lief alles ganz reibungslos: Das System erkannte die Musik und lieferte Zusatzinformationen – wenn auch im ersten Test nur für 30 der rund 1800 Besucher.

Popularisierung der Klassik

Warum aber soll ein Computer ein Musikstück überhaupt begleiten? „Klassische Konzerte sollen zum umfassenden Hörerlebnis werden, Konzerthäuser vermarkten ihr Angebot immer stärker digital“, sagt der Forscher. Zusätzlich eingespielte Informationen könnten eine Popularisierung der klassischen Musik bringen. Benutzerstudien zeigten, dass sich viele Menschen mit klassischer Musik nicht auskennen, sie sei ihnen zu kompliziert, sagt Widmer. Digital ließe sich daher auf schwer Hörbares gut hinweisen, mit Einspielungen auch Erklärungen mitliefern.

Einzelne Konzerthäuser bieten Werke bereits digital mit ergänzenden Informationen an. „Das passiert allerdings noch in mühsamer Handarbeit und ließe sich automatisieren und ausbauen“, so Widmer, der künftig stärker mit österreichischen Konzerthäusern zusammenarbeiten will. Im Linzer Musiktheater gäbe es etwa bereits die passende Infrastruktur: mit in die Rückenlehne des Vordermanns eingebauten Bildschirmen.

Auch verschiedene Interpretationen desselben Stücks ließen sich mit der neuen Technologie vergleichen. „Hier gibt es riesige Unterschiede, die sich messen und darstellen lassen“, so Widmer. So ließe sich am Tablet die unterschiedliche Umsetzung durch verschiedene Orchester sichtbar machen – möglicherweise auch ein gut nutzbares Werkzeug für Musikwissenschaftler.

Fand Beethoven einst fad

Für Software, die Musik erkennen und einordnen kann, ist Widmer bereits rund um den Globus bekannt. Bereits auf dem Markt ist etwa „More of the same“: Diese schätzt Ähnlichkeiten ab und empfiehlt dem Nutzer automatisch Nummern, die zu seinem Stil passen. Das gibt es vor allem für Rock- und Popmusik, denn klassische Musik sei weit komplexer als Popmusik, so Widmer. Daher ist der gelungene Test in Amsterdam auch ein besonderer Erfolg.

Widmer selbst fand Beethoven übrigens mit 14 Jahren „furchtbar fad“. Obwohl Musik für ihn immer wichtig war und er als Jugendlicher Klavierwettbewerbe gewann, studierte er dann doch Informatik. „Zum Spaß“ begann er, musikalische Aufgaben mit Algorithmen zu lösen. Das funktionierte so gut, dass es ihm später mit dem Start- und dem Wittgenstein-Preis des Wissenschaftsfonds FWF höchste Auszeichnungen brachte. Mittlerweile hat er sich mit der Klassik also offenbar wieder angefreundet.

IN KÜRZE

Das Technikexperiment mit dem weltberühmten Concertgebouw-Orchester in Amsterdam fand im Rahmen des EU-Projekts Phenicx statt. Das Akronym steht für Performances as Highly Enriched aNd Interactive Concert eXperiences. Forscher aus ganz Europa arbeiten darin an neuen Technologien, die Konzerte zu umfassenderen Erlebnissen für neue Publikumsschichten machen sollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2015)

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