"Viele statistische Analphabeten in der Medizin"

(c) BilderBox
  • Drucken

Verstehen Ärzte Statistiken falsch, kann das Patienten gefährden. Bei der Früherkennung von Prostata- und Brustkrebs sei das fatal, sagt der Direktor der österreichischen Cochrane-Zweigstelle, Gerald Gartlehner.

Die Presse: Es heißt „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Welchen Statistiken trauen denn Sie?

Gerald Gartlehner: Das Problem der Statistiken ist, dass sie sehr flexibel sein können und man mit Daten sehr viel machen kann. Es gibt immer wieder gefälschte Statistiken, es gibt aber auch solche, die einfach falsch oder naiv interpretiert wurden. Skepsis gegenüber Statistik ist auf jeden Fall angebracht, vor allem in der medizinischen Profession. Dort sind sehr viele statistische Analphabeten zu Hause, die nicht mit Statistiken umgehen können.

Worin liegt die Gefahr?

Das Unwissen wird von der Industrie und anderen Interessenvertretern beinhart ausgenutzt. Statistik wird so präsentiert, wie sie ins Konzept passt. Viele Ärzte müssen Ergebnisse glauben, weil sie sie nicht selbst interpretieren können.

Was bedeutet das für Patienten?

Ein Beispiel: Bei einer Konferenz in Deutschland wurden Gynäkologen befragt, wie groß die Wahrscheinlich ist, dass eine Frau mit einem positiven Brustkrebs-Screening tatsächlich Brustkrebs hat. 90 Prozent konnten das nicht interpretieren, die meisten haben es überschätzt. Tatsächlich liegt die Wahrscheinlichkeit bei nur circa zehn Prozent, alles andere sind falsch-positive Befunde. Wenn eine Frau nun fragt „Was bedeutet das für mich, habe ich wirklich Krebs?“ und der eigene Gynäkologe kann das nicht interpretieren, dann ist das natürlich dramatisch für die Frau. Das ist statistischer Analphabetismus mit Konsequenzen im täglichen Leben.

Sollte es mehr fundiert ausgebildete Statistiker geben in den verschiedenen Bereichen?

Vor allem die Wirtschaft braucht viel Statistik, dort gibt es auch sehr gute Statistiker. Die Konsequenzen für den Einzelnen sind aber wohl geringer. Verschätzt sich ein Aktienbroker, dann verliert man vielleicht Geld. In der Medizin können falsche Interpretationen dramatische Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen haben. Ohne Grundkompetenzen in Statistik ist kritisches Hinterfragen in der Medizin eigentlich nicht möglich.

Sie bieten Workshops zur kritischen Bewertung medizinischer Studien an. Trauen Sie den Medizinern nicht?

Es fehlt an den Fähigkeiten. Jüngere Mediziner sind oft wesentlich kritischer eingestellt, aber Statistik ist nach wie vor etwas, was man offenbar im Studium nicht ausreichend lernt. Pharmavertreter kommen mit gut gemachten Broschüren, schön aufbereiteten Statistiken und einfachen Antworten und haben dann zehn Minuten, um den Arzt zu überzeugen. Untersuchungen in den USA zeigen, dass schon zehn Minuten mit einem Arzt zu einer Vervielfachung der Verschreibung führen.

Evidenzbasierte Medizin, wie Sie sie betreiben, bedeutet, dass Patienten auf Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten behandelt werden, heißt es auf Ihrer Homepage. Nur: Welche Daten sind die besten?

Gehen wir einen Schritt zurück: Zwei Drittel von dem, was in der Medizin passiert, ist nicht evidenzbasiert. Das heißt, wir haben keine wissenschaftlichen Nachweise, dass Maßnahmen wirklich mehr Nutzen als Schaden bringen. Das bedeutet nicht, dass diese Maßnahmen wirkungslos sind, nur dass sie wissenschaftlich nicht ausreichend belegt sind. Vieles wird gemacht, weil es immer schon so gemacht wurde, weil man aus Erfahrung glaubt, dass es hilft, und weil es kein Geld für Studien gibt.

Sie haben zum Nutzen und Schaden von Krebsscreenings publiziert. Selbst Richard Ablin, der Entdecker des PSA-Werts, äußerte sich sehr kritisch dazu. Ihre Einschätzung von PSA-Screenings?

Ablin spricht von einer Gesundheitskatastrophe in Bezug auf das, was mit seinem PSA gemacht wird. Prävention und Vorsorge sind zu einem Geschäftsmodell geworden. Es geht sehr stark um wirtschaftliche Interessen. Dabei ist für die meisten Männer der Schaden des PSA-Screenings wahrscheinlich größer als der Nutzen. Es gibt gute Gründe, warum in den meisten Ländern PSA-Tests explizit nicht empfohlen werden, etwa in den USA. In Österreich ist es die häufigste Früherkennungsuntersuchung.

Was genau ist das Problem?

Es müssen ungefähr 1400 Männer über zehn Jahre lang zum Prostata-Screening gehen, damit einer Person das Leben gerettet werden kann. Etwa jeder Sechste wird dabei einen falsch-positiven Test haben, und es werden viele Karzinome gefunden, an denen diese Männer nie erkrankt wären. Weil man die Aggressivität der Karzinome schwer einschätzen kann, werden sie meist operiert. In Österreich werden die Fakten oft nicht auf den Tisch gelegt. Man spricht vom Nutzen von Prostata-Screenings, aber vom potenziellen Schaden spricht niemand. Die Entscheidung, die die Männer treffen, erfolgt auf einer schiefen Ebene, weil ihnen die Information für eine gut abgewogene Entscheidung fehlt.

Was ist der potenzielle Schaden?

Es werden sehr viele Männer operiert, die dadurch keinen Gewinn an Lebenszeit erfahren. Nur drei von 100 operierten Männern gewinnen an Lebenszeit. Circa 30 bis 50 Prozent sind danach inkontinent, mehr als 50 Prozent sind impotent. Wir wissen von Untersuchungen männlicher Leichen, dass zwar circa 80 Prozent ein Prostatakarzinom haben, aber an etwas völlig anderem verstorben sind. Wenn man also gezielt danach sucht, findet man die Karzinome. Und dann wird etwas behandelt, an dem die Leute eigentlich nie erkrankt oder verstorben wären.

Warum wird der PSA-Wert dermaßen überbewertet?

Was dabei sehr oft missverständlich verwendet wird, ist die Überlebenszeit. Denn was passiert, ist lediglich ein Vorziehen der Diagnose. Geht jemand nie zum Screening und das Karzinom wird mit 67 Jahren aufgrund von Symptomen diagnostiziert und er stirbt mit 70, hat er eine Überlebenszeit von drei Jahren und eine Fünfjahres-Überlebenszeit von null Prozent. Nehmen Sie den gleichen Patienten und führen einen PSA-Test durch, finden Sie das Karzinom vielleicht mit 60. Stirbt er aber trotzdem mit 70, dann hat er keinen Gewinn an Lebenszeit, aber durch die vorverlegte Diagnose eine scheinbare Überlebenszeit von zehn Jahren und eine Fünfjahres-Überlebenszeit von 100 Prozent. So kommen beeindruckende Zahlen zustande. Überlebenszeit bedeutet bei Krebsscreening statistisch gesehen aber nichts, man muss sich die Sterblichkeit ansehen.

Wie ist es bei der Mammografie?

Ähnlich, aber eine Spur besser. Bei Frauen über 50 dürfte es zu einer Reduktion der Brustkrebssterblichkeit kommen. Der Effekt ist aber auch relativ klein: Es müssen zwischen 1000 und 2000 Personen über zehn Jahre lang zum Brustkrebs-Screening gehen, damit einer das Leben gerettet werden kann. Wie beim Prostata-Krebs werden viele Frauen auf ein Karzinom behandelt, an dem sie nie erkrankt wären, das beim Screening aber gefunden wurde. Ein sehr großes Problem ist auch, dass zu viele junge Frauen gescreent werden.

Sie kritisieren die Altersgrenze für Screening-Empfehlungen?

In Österreich werden Screenings ab 45 Jahren empfohlen, international ab 50 Jahren. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Herbst sogar Empfehlungen veröffentlicht, wonach unter 50 Jahren explizit nicht gescreent werden soll, außer im Zuge von Studien. In Österreich war die Festlegung realpolitisch ein Kuhhandel zwischen Radiologen und Ministerium, vorher lag die Empfehlung bei 40 Jahren.

Rund 601.900 Mammografien wurden 2014 in Österreich durchgeführt, die Zahl soll sich weiter erhöhen...

Das zeigt, wie hinterwäldlerisch Österreich zum Teil noch ist. Im deutschen Krebsplan steht explizit, dass das Ziel nicht ist, möglichst viele Leute zum Krebsscreening zu karren. Das Ziel ist, dass möglichst viele eine informierte Entscheidung treffen, ob sie ein Screening durchführen wollen oder nicht. Dazu braucht es objektive Informationen. Ein englischer Ethikrat hat schon vor 20 Jahren gesagt, dass das Vorenthalten von Informationen, um Patienten in eine bestimmte Richtung zu leiten, unethisch ist. Was bei uns zum Teil noch passiert, dass die Nebenwirkungen von Screenings beim ärztlichen Gespräch überhaupt nicht angesprochen werden, kann man guten Gewissens als unethisch bezeichnen.

Warum dringt man da mit Argumenten nicht durch?

Krebs ist sehr emotional besetzt, rationale Argumentation ist sehr schwierig. Man wird sehr häufig in ein Eck gestellt, es heißt, man will den Menschen schaden oder man nimmt Krebserkrankungen in Kauf. Das passiert auch in Diskussionen mit Medizinern sehr häufig.

Sie leiten seit fünf Jahren die Cochrane-Zweigstelle in Österreich, die sich evidenzbasierter Medizin verpflichtet sieht. Was hat sich in dieser Zeit geändert?

Das Bewusstsein, dass Wissenschaft in Entscheidungen einfließen soll, ist gestiegen, und auch das Bewusstsein, dass Ärzte Formen des Wissensmanagements brauchen. Es werden drei Millionen medizinische Artikel pro Jahr publiziert. Das schafft der Einzelne nicht. Wir brauchen systematische Übersichtsarbeiten und Leitlinien, die Inhalte kurz und präzis zusammenfassen. Nur dann kann wirklich eine optimale Patientenversorgung gewährleistet werden.

ZUR PERSON

Gerald Gartlehner, geboren 1969, studierte Medizin in Wien, danach Public Health an der University of North Carolina (UNC), USA. 2007 war er Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Health Technology Assessment in Wien, seit 2008 leitet er das Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Uni Krems. 2011 habilitierte er sich in Epidemiologie an der Med-Uni Wien, seit 2012 ist er stellvertretender Direktor des RTI UNC Evidence-based Practice Center. Seit Dezember 2010 ist er Direktor der zugleich eingerichteten österreichischen Cochrane-Zweigstelle.

Die Cochrane Collaboration ist ein weltweites Netz von Ärzten, Wissenschaftlern und anderen Fachleuten. Ziel ist, systematische Übersichtsarbeiten zur Bewertung von medizinischen Therapien zu erstellen, zu aktualisieren und zu verbreiten. So soll eine unabhängige, wissenschaftlich fundierte Informationsgrundlage geschaffen werden, die es erlaubt, den aktuellen Stand der klinischen Forschung in kurzer Zeit objektiv beurteilen zu können. Um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten, verzichtet die Einrichtung mit Sitz im englischen Oxford auf industrielle oder pharmazeutische finanzielle Förderung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.