Der fünfte Geschmack

SOUTH KOREA KELP DRYING
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Ein japanischer Chemiker spürte 1899 in Deutschland etwas Heimatliches auf der Zunge, er nannte es Umami. Es mundet wie sonst nichts.

Was die Suppen angeht, haben Europa und Japan einander einiges zu danken. Es begann 1882 im Kemptthal bei Winterthur in der Schweiz. Dort hatte ein Herr Maggi – er sprach sich „Madschi“, stammte aus dem Piemont – ein Mühlenimperium zusammengekauft, 1869 übernahm sein Sohn Julius. Der verband den Sinn für das Geschäft mit einem hohen sozialen, er wollte neue Märkte erschließen und versuchte das mit Fertiggerichten, die es Arbeiterinnen ermöglichen sollten, ihren Familien etwas so rasch Zubereitetes wie Nahr- und Schmackhaftes auf den Tisch zu bringen: Suppen auf der Basis von zermahlenen Hülsenfrüchten.

Die Idee schlug ein, 1877 hatte Maggi wieder eine, auf einer Japanreise war ihm Sojasauce untergekommen. Er versuchte sie nachzuahmen, entwarf mit eigener Hand auch die Flasche, die zu einer Ikone wurde wie sonst nur die von Coca Cola, und er engagierte einen Werbetexter: Frank Wedekind („Vater, mein Vater, ich werde nicht Soldat, dieweil man bei der Infantrie nicht Maggi-Suppe hat!“; „Söhnchen, mein Söhnchen, kommst du zu den Truppen, so isst man dort auch längst nur Fleischconservensuppen!“). Maggis Erben ließen sich später mit den Nazis ein, die Würze überlebte auch das. Ihr einprägsamster Slogan tat es ebenfalls, er war einer flüssigeren Feder entflossen: „Das gewisse Tröpfchen Etwas“.

Nichts von alldem gekostet hat Ikeda Kikunae, ein japanischer Chemiker, der von 1899 bis 1901 in Leipzig studierte und einen sensiblen Gaumen hatte. Der erweckte in ihm bei vielen europäischen Speisen – Tomaten, Fleisch, Käse, Parmesan vor allem – eine Empfindung, die ihn an etwas aus seiner Heimat erinnerte, Dashi, eine Suppe auf der Basis von getrocknetem Seetang, Kombu. Den nahm Ikeda sich nach seiner Rückkehr vor, 1908 identifizierte er den Geschmacksstoff: Glutaminsäure, eine Aminosäure. Man kannte sie, 1866 hatte sie der deutsche Chemiker Ritthausen aus Weizen isoliert, Emil Fischer kostete sie 1906 und beschrieb sie als erst „sauer“, dann „seltsam“ und „fad“. Das mag mit daran gelegen haben, dass Fischer der klassischen Einteilung der Geschmäcker folgte: Aristoteles hatte sieben unterschieden – süß, sauer, salzig, bitter, beißend, ausdörrend, herb –, in Europa hielten sich die ersten vier als echte Geschmäcker, die anderen werden chemischen oder mechanischen Effekten zugerechnet, bei denen Zellen der Zunge und/oder Mundhöhle geschädigt werden. Vier also.


Suppig, fleischig, schmackhaft. Um so größer die Überraschung, als Ikeda im September 1912 beim International Congress of Applied Chemistry in New York ans Pult trat: „Es gibt noch eine Geschmacksqualität, die als primäre angesehen werden muss, da sie nicht durch eine Kombination der anderen Qualitäten erzeugt werden kann. Für diese Qualität wird der Name ,Glutamatgeschmack‘ (Umami) vorgeschlagen.“ In der zugehörigen Publikation begründete Ikeda die Wahl des Namens damit, dass man beim Verzehr etwas Besonderes schmecke, „Umami (das meint suppig, fleischig oder schmackhaft)“, er erwähnte auch, dass er sich ein Herstellungsverfahren habe patentieren lassen – für das Natriumsalz der Säure, Mononatriumglutamat, kurz: Glutamat – und hoffe, dass sich daraus eine „chemische Industrie“ entwickeln werde (Chem. Senses 27, S.847, Teilübersetzung des Originals im Journal der Chemical Society of Tokyo 1909).

Eine Industrie wurde es, Ikeda stieg selbst ein, gewann als Hersteller einen Jodfabrikanten und ließ den beim Rohstoff bald von Seetang auf Weizen umstellen. Der enthält mehr Glutaminsäure, heute werden in Japan im Jahr um die zwei Millionen Tonnen produziert, vor allem mit Bakterien. Aber wonach schmeckt es eigentlich, und wie wird es wahrgenommen? Das ist so einfach gar nicht zu sagen, 1948 versuchte man, es auf einem Symposium in Hawaii zu klären, professionelle Koster urteilten so: „Ein begehrenswerter fleischähnlicher Geschmack“; „rundet den Geschmack ab“; „bringt die Empfindung ,Befriedigung‘“; „fügt nicht Geschmack hinzu, sondern Gefühl“; „ist Geschmack, Aroma und Gefühl“.

Viel klarer schmeckt man heute auch nicht. Immerhin weiß man, wie es wahrgenommen wird: Für jeden Geschmack gibt es spezialisierte Sensoren, in den Neunzigerjahren wurden sie nach und nach identifiziert, immer vom gleichen Gespann, Charles Zuker (UC San Diego) und Nicholas Ryba (NIH, Bethesda): Saures und Salziges wird von Ionenkanälen erschmeckt, für Süßes und Bitteres sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren zuständig. Die schlängeln sich durch Zellmembranen und melden auch Umami. Aber die allein können es nicht sein, denn Umami hat eine Qualität, die es von allen anderen Geschmäckern unterscheidet: Es ist nicht nur Geschmack, es ist eben auch, wie schon in Hawaii herausgeschmeckt: Gefühl.

Dem hat sich die Forschung in Japan in den vergangenen Jahren zugewandt. Vorgestellt wurden die Befunde eben in einem Sonderheft von Flavour (4:13): Da geht es etwa darum, dass viele fettreduzierte Produkte einfach nicht munden, weil ein Gefühl fehlt: das, dass man etwas im Mund hat, irgendetwas, was schmeckt. Umami hilft, Takashi Miyaki (Kanagawa) hat es an entfetteter Hühnersuppe gezeigt, Motonaka Kuroda (Kanagawa) an entfetteter Erdnussbutter. Und dann ist da noch das Altern: Der Geschmack für Umami schwindet, in jungen Jahren schon, ab 20, im hohen Alter vergeht vielen jeder Appetit, dann droht Gewichtsverlust. Das kommt auch daher, dass mit dem Altern der Speichel versiegt. Aber man kann ihn wieder in Fluss bringen – mit Umami. Noriaki Shoji (Sendai) hat es an Bewohnern von Altersheimen getestet und empfiehlt Seetangtee.

Seetangtee? Ein anderes Etwas wird es wohl auch tun! Eines aus der braunen Flasche? Wedekind bewarb den Speichelfluss nicht, gottlob, aber bei aller Geheimniskrämerei um die Rezeptur darf man unterstellen, dass auch ein paar Tröpfchen Umami zum gewissen Tröpfchen beitragen. Eher nicht drin ist das Kraut, das von der Würze seinen zweiten Namen hat: Liebstöckel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2015)

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