Aus Lähmung wird Bewegung

Mann im Rollstuhl
Mann im Rollstuhl(c) bilderbox
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Rückenmark. Elektroden und Prothesen ersetzen die Arme nach einer Querschnittlähmung.

Es war ein Moment, der sich bei Millionen Fernsehzuschauern ins Gedächtnis gebrannt hat. „Wetten, dass..?“ im Dezember 2010: Samuel Koch stürzt bei einem Salto über ein fahrendes Auto schwer. Der junge Mann ist seither querschnittgelähmt, wurde aber trotz Rollstuhl Schauspieler. Warum sind Verletzungen des Rückenmarks nicht heilbar? Das liegt an der Biologie unseres zentralen Nervensystems, zu dem das Rückenmark und das Gehirn gehören. Man kann sich die Nervenbahnen nicht wie Kabel in einem Computer vorstellen.

„Allein zwischen Rückenmark und einem Arm verlaufen fast 300.000 Nervenfasern“, sagt Oskar Aszmann von der Universitätsklinik für Chirurgie der Med-Uni Wien. Im Rückenmark selbst sind es Millionen von Nervenfasern. Ebenso wie im Gehirn jede einzelne Nervenzelle mit tausenden anderen vernetzt ist, kommunizieren auch die Fasern im Rückenmark untereinander. Dieses neuronale Netzwerk ist beim Menschen noch nicht wieder herstellbar, wenn es durchtrennt oder zerquetscht wurde – bei Ratten gibt es schon einzelne Erfolge.

Nervenenden abgeschirmt

Nach der Verletzung bilden sich schnell Narben, die Nervenenden liegen nicht frei, sondern werden abgeschirmt. Denn Fehlverschaltungen könnten Schaden anrichten, wenn verletzte Nerven unkontrolliert zusammenwachsen. Daher hemmt der Körper selbst das Nervenwachstum nach einer Rückenmarksverletzung.

Doch die Wissenschaft sucht weiter nach Wegen, um Menschen mit Querschnittlähmung zu helfen. Das Team um Aszmann der Med-Uni Wien und vom Christian Doppler Labor für Wiederherstellung von Extremitätenfunktionen testet gemeinsam mit dem Medizintechnik-Konzern Otto Bock Roboter-Arme: Die Prothesen sind vom Patienten steuerbar, indem sie an Bewegung denken. Der Nervenimpuls lässt einen Muskel oberhalb der Verletzung zucken: Die Muskelkontraktionen übersetzen quasi die Sprache des Gehirns in die Sprache der Elektronik, die die Prothese steuert.

Die aktuellsten Erfolge betreffen Patienten, deren Nervengeflecht am Rückenmark zerstört ist, das für Arme und Hände zuständig ist. Einer der Patienten hatte seit 15 Jahren eine funktionslose Hand. „Da sind alle Muskeln und Nerven verkümmert, es herrscht eine ,biologische Wüste‘“, so Aszmann. Die Patienten konnten die neue mechanische Hand vor der Operation ausprobieren: Neben der lahmen Hand wurde die Prothese montiert. Nach langem Training ist es möglich, das Greifen der Prothesenfinger zu steuern. Wenn das klappt, wird die eigene Hand amputiert und die Prothese angepasst. „Die Patienten konnten Schlüssel benutzen oder Wasser aus einem Krug leeren“, so Aszmann. Auch er verfolgt den Fall Samuel Koch aus medizinischem Interesse: „Mit unserer Technik könnte er einen Roboterarm, der am Rollstuhl fixiert wird, mit den verbliebenen Nerven steuern. Dann könnte auch er wieder Türen öffnen oder sich etwas aus dem Kühlschrank nehmen.“

Auch am Institut für Semantische Datenanalyse der TU Graz wird eifrig an der Wiederherstellung der Hand mit technischen Mitteln geforscht. Das Team um Gernot Müller-Putz entwickelt Neuroprothesen, die ebenfalls von Gedanken gesteuert werden. Ein EEG (Elektroenzephalografie) fängt die Gedanken an der Kopfoberfläche ein: Das Gehirnstrommuster ändert sich, wenn man an eine Hand- oder Fußbewegung denkt. Das Brain-Computer Interface (BCI), so der Name der Technologie, erkennt das Muster und schickt Impulse an Elektroden der Neuroprothese am Arm, um die lahmgelegten Muskel zu bewegen.

Im EU-Projekt „More Grasp“ wird dieses System weiterentwickelt. „Patienten können bereits gezielt steuern: Denken sie lange an eine Bewegung, hebt sich der Arm hinauf oder hinunter. Denken sie kurz an die gleiche Bewegung, gehen die Finger der Hand auf oder zu“, sagt Müller-Putz. Auch drahtlose Modelle, die Informationen aus dem Gehirn direkt zu den Elektroden an der Hand leiten, sind in Planung.

Arme wichtiger als Beine?

Warum wird an der Hand geforscht, wollen nicht die meisten Querschnittgelähmten wieder gehen können? „Die Hand ist viel wichtiger. Funktioniert sie nicht, braucht man auch für alles, was intim ist, eine andere Person, die hilft“, sagt Müller-Putz. Waschen, Zähne putzen, Toilette.

Eine Umfrage der Christopher Reeve Foundation ergab, dass der wichtigste Wunsch ist, selbst atmen zu können. An zweiter Stelle steht, die Hand zu benutzen, dann kommen Verdauungs- und Sexualfunktionen und erst danach der Wunsch, wieder stehen zu können. Der Rollstuhl wirkt eben nur für nicht betroffene Menschen dominierend, sie sehen beispielsweise den Katheter des Querschnittgelähmten nicht. Der Superman-Darsteller Christopher Reeve war ab 1995 durch einen Unfall querschnittgelähmt, er starb 2004. Seine Foundation steckt nun Geld in die Forschung zur Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen.

Auch in Österreich sitzt eine der größten Stiftungen für Rückenmarksforschung: Wings for Life, finanziert von Red Bull. Gegründet wurde sie von Heinz Kinigadner, dem Motocross-Fahrer aus Tirol. Sein Sohn Hannes ist seit einem Sturz bei einem Motocross-Rennen im Jahr 2003 querschnittgelähmt.

Steuerung ohne das Gehirn

Die Stiftung fördert unter anderem Simon Danner von der Med-Uni Wien, um die Frage zu lösen: „Welche Fähigkeiten besitzt das Rückenmark unterhalb der Verletzung?“ Einige Betroffene haben zur Therapie gegen Spastiken elektrische Stimulatoren im Wirbelkanal eingesetzt. An ihnen konnte nun erkannt werden, welche Kontrollmechanismen es im Rückenmark für das Gehen gibt. Denn unterhalb der Verletzung, ohne Steuerung des Gehirns, funktionieren im Rückenmark noch „Lokomotionszentren“: Das sind Nervenverbände, die durch elektrische Stimulation rhythmische Bewegungen in den Beinen steuern.

„Das ist kein Zucken, sondern schreitähnliche Bewegung. Unsere Forschung zeigt, dass das Rückenmark eine Vielzahl motorischer Signale erzeugen kann“, so Danner. In Kombination mit Laufbandtherapie kann man so die Mobilität verbessern. Bald soll auch eine Stimulation über die Haut möglich sein, um den Betroffenen den Eingriff am Rückenmark zu ersparen.

LEXIKON

Das zentrale Nervensystem (ZNS) besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Das periphere Nervensystem hingegen durchzieht den restlichen Körper. Die Zellkörper der Nervenzellen im peripheren Nervensystem liegen in oder nahe am Rückenmark, ihre langen Ausläufer (Axone) bringen die Information zu den Muskeln und anderen Geweben.

Das Rückenmark verläuft im Wirbelkanal und ist wie das Gehirn von Hirnhäuten umhüllt. Über 250.000 Menschen pro Jahr erleiden eine Rückenmarksverletzung, 47 Prozent davon auf der Höhe der Halswirbelsäule. Sie verursacht eine Lähmung von Armen und Beinen (Tetraplegie). Verletzungen in der Brustwirbelsäule führen zur Lähmung der Beine (Paraplegie).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2015)

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