Hirnforschung: Geomagnetkompass als Sehhilfe für Blinde?

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Das Gehirn kann Informationen verarbeiten, die es von Natur her überhaupt nicht kennt: Es sieht auch ohne Augenlicht mit entsprechenden Prothesen seinen Ort in der Welt.

Das Gehirn ist unglaublich plastisch, auch in fortgeschrittenem Alter kann es sich umbauen, etwa wenn Erwachsene erblinden. Dann erstellen sich manche ihr Bild von der Welt mit den Ohren: Sie erzeugen Klicklaute und erlauschen das Echo, verarbeitet wird die Information im Sehzentrum. Aber kann ein Gehirn sich auch auf einen Sinn umstellen, den Menschen für gewöhnlich überhaupt nicht haben, auf einen Magnetsinn?

Ratten haben auch keinen, aber bei ihnen hat das Wunder funktioniert, im Labor von Yuji Ikegaya (Osaka). Der tastet die Grenzen des Gehirns aus und hat sich von einem Experiment inspirieren lassen, in dem Ratten mit einer Neuroprothese ausgestattet wurden, die Infrarotlicht sieht. Ratten sehen es nicht, aber was die Prothese dem mit ihr verdrahteten Sehzentrum meldete, verarbeiteten sie so wie mit den eigenen Augen Erblicktes. Immerhin, es geht auch beim Infrarot um etwas Vertrautes, um das Sehen.

Ikegaya ging weiter: Er hat Ratten das Augenlicht genommen – die Lider vernäht – und ihnen einen geomagnetischen Kompass auf den Kopf gesetzt. So einer ist in jedem Smartphone, den Ratten brachte er indirekte Information über die Welt, er zeigt an, in welche Richtung der Blick gerade geht bzw. ginge, wenn es einen Blick gäbe. Dann hat er getestet, ob das Gehirn so eine Information überhaupt aufnimmt: Er hat die Prothese mit dem Belohnungszentrum des Gehirns verdrahtet und den Kompass immer dann aktiviert, wenn die Tiere gerade nach Norden ausgerichtet waren.

Nun richteten sie sich häufiger nach Norden. Diese Information – Nord/Süd – verwerteten sie auch im Hauptexperiment. In dem ging es darum, in einem Labyrinth („maze“) Futter zu finden, es hatte T-Form, die Tiere mussten richtig abbiegen, rechts oder links. Am ersten Tag suchten alle Tiere nach Zufall, zu 50 Prozent schlugen sie den richtigen Weg ein, nach fünf bis sieben Tagen wussten Ratten mit intaktem Augenlicht Bescheid, ihre Erfolgsrate lag bei 80, 90 Prozent.

Die Wahrnehmung erweitern

Ratten mit vernähten Augen kamen nie über 50 Prozent hinaus, sie konnten zwar die Wände ertasten – mit ihren Barthaaren –, aber sie hatten nicht die nötige Information über ihren Ort in der Welt. Ratten mit der nun dauernd aktiven Prothese hingegen – verdrahtet mit dem Sehzentrum – hatten sie, sie fanden am Ende so gut zum Futter wie sehende (Current Biology 2. 4.). „Wir waren überrascht, dass Ratten einen neuen Sinn benützen können, den sie nie hatten“, schließt Ikegaya. Er denkt bei Menschen etwa an das Integrieren von Magnetkompassen in Blindenstöcke. Und er denkt noch viel weiter, an die Erweiterung unserer Sinne um die Wahrnehmung von UV-Licht, Ultraschall und anderem: „Vielleicht nutzen wir das Hirn nicht in ganzem Umfang. Die wirkliche Welt mag viel ,bunter‘ sein, als wir sie wahrnehmen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2015)

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