Katastrophenforschung: Fehlgeleitete Entwicklungshilfe

(c) EPA (Dennis M. Sabangan)
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Neue Studien machen negative Folgen von Hilfsmaßnahmen sichtbar: Abhängigkeit und Passivität nach der Katastrophenhilfe sollen vermieden werden.

„Manche Inseln der Nikobaren bauten nach dem Tsunami 2004 neue, funktionierende Führungsstrukturen auf. Mit wenigen Neuerungen führen sie ihren traditionellen Lebensstil fort. Auf vielen Inseln herrschen jedoch triste Verhältnisse“, berichtet die Sozialökologin Marina Fischer-Kowalski vom Institut für Soziale Ökologie der Universität Klagenfurt. Dass die Mehrheit der indigenen Bevölkerung zehn Jahre nach dem Tsunami desorientiert und verarmt ist, ist nur zum Teil auf die Naturkatastrophe zurückzuführen. Die Zerstörung ihrer Kultur geht auch auf das Konto fehlgeleiteter Entwicklungshilfe.

Zu diesem Ergebnis gelangte das Team um Fischer-Kowalski und den Humanökologen Simron Jit Singh. Ausgangspunkt war ein vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Forschungsprojekt. „Unter den Hilfsorganisationen herrscht Konkurrenz. Auf Mindeststandards wie die Installation großer Wassercontainer ist man stolz. Jedoch ist standardisierte Hilfe nicht überall sinnvoll“, kritisiert die Forscherin.
In den Jahren nach dem Tsunami beschäftigte das Team nicht nur der Wiederaufbau lokaler Verantwortungsstrukturen, sondern auch der Versuch, gemeinsam mit den Überlebenden eine Subsistenzwirtschaft aufzubauen.

Decken statt Moskitonetze

Dabei wurden sie Zeugen, wie durch unpassende Hilfeleistung, etwa Decken statt Moskitonetze, fehlende Unterstützung beim Wiederaufbau und die Überhäufung mit Geld, Konsumgütern und Nahrungsmitteln deren Fähigkeit zur Selbsthilfe verloren geht.

Ein anderes Beispiel dafür, dass Entwicklungshilfe nicht nur Segen bringt, sind die Maasai in Tansania. Maasai-Frauen mussten auf Druck der Entwicklungshilfe die traditionelle Milchgewinnung mittels Kalebasse, eines ausgehöhlten Kürbisses für Milch, die verkauft werden soll, aufgeben. Stattdessen sollten sie Plastikeimer verwenden.

Kürbis sicherer als Plastik

Im Projekt „Sichere Milch für Tansania“ von Tierärzte ohne Grenzen Österreich unter der Leitung von Dagmar Schoder von der Vet-Med-Uni Wien zeigten jedoch Laborergebnisse, dass die Kalebassenmilch eine extrem geringe Gesamtkeimzahl pro Milliliter Milch aufwies. Die Eimermilch war hingegen hochgradig keimbelastet und machte krank.

Inseln anfälliger für Desaster

Die Entwicklungen auf den Nikobaren nach dem Tsunami dokumentierte der heimische Filmemacher Raphael Barth im Film „Aftermath. Die zweite Flut“, der heuer auch in renommierten Fachmedien wie „Nature“ oder „New Scientist“ rezensiert wurde.

Darüber hinaus entstand eine neue Forschungsrichtung um das „Complex Disaster“, die sich auch mit „Tipping Points on Islands“ befasst. Das sind laut Fischer-Kowalski jene Kipppunkte, durch die ein System abstürzt oder ganz neue Eigenschaften an den Tag legt.

Wird auf einer Insel zum Beispiel das Krankenhaus geschlossen, kann es sein, dass ein Drittel der Bevölkerung weggeht, da Pendeln unmöglich ist und sie selbst oder Angehörige medizinische Betreuung brauchen. Das verändert das gesamte System. „Bei Inseln ist die Gefahr, dass die Situation einen desaströsen Verlauf nimmt, viel größer als auf dem Festland.“ Für Inselforscher sind neue Forschungsergebnisse interessant, da die Wechselwirkung zwischen Sozialprozessen und Naturkatastrophen auch angesichts der Klimaveränderungen an Bedeutung gewinnt.

Wiederaufbau bewältigen

Indem erstmals wissenschaftlich dokumentiert wurde, dass humanitäre Interventionen sowohl das Vermögen der Bevölkerung mindern können als auch deren Fähigkeit, den Wiederaufbau zu bewältigen, weckte das Team auch international Aufmerksamkeit für diese Probleme.

Forschung, die den Betroffenen nützt, kann genauso hochrangige wissenschaftliche Resonanz bringen. Es ist nicht vergeblich, Zeit in solche Projekte zu investieren“, resümiert Fischer-Kowalski. Kriterien, die diese Leistungen anerkennen, gibt es allerdings noch nicht. Warum sie es trotzdem macht? „Weil es unheimlich befriedigend ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2015)

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