Biologie: Hat das Kinn überhaupt einen Sinn?

SWITZERLAND ART RODIN
SWITZERLAND ART RODIN(c) EPA (Eddy Risch)
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Das ausladende untere Ende des Gesichts hat außer uns niemand. Lange vermutete man, es hänge mit Belastungen des Kiefers zusammen. Aber es geht wohl nur um die Geometrie des gesamten Gesichts.

Es denkt sich gut, wenn man das Kinn auf die Hand stützt, Rodin hat es gezeigt. Und wenn man schon so denkt, dann kann man auch darüber nachsinnen, wozu wir überhaupt ein Kinn haben. Nathan Holten (University of Iowa) hat es getan: „Es scheint ganz trivial, aber das Kinn ist so interessant, weil wir die Einzigen sind, die es haben.“ Andere Primaten haben kein Kinn, unsere Ahnen hatten keines, die Neandertaler auch nicht, selbst bei uns ist bei Babys kaum etwas von der Ausbuchtung am unteren Ende des Gesichts zu sehen, sie kommt erst mit dem Reifen.

Woher? Die gängige Hypothese vermutet, dieser Knochen habe sich durch besondere Belastungen beim Kauen so geformt. Aber Holton winkt ab: Er hat die Entwicklung des Kinns an vierzig Kindern über die vergangenen 17 Jahre gemessen, am Anfang waren sie drei Jahre und hatten kaum Kinn. Dann kam es, aber nicht als Antwort auf Belastungen, im Gegenteil: Bei Erwachsenen mit dem kräftigsten Knochen war das Kinn schwach ausgeprägt: „Unsere Studie lässt vermuten, dass das vorspringende Kinn nichts mit der Funktion des Kiefers zu tun hat“, erklärt Holton.

Vor 80.000 Jahren: Verweiblichung!

Warum ist es dann hervorgesprungen? Holton und sein Mitarbeiter Robert Franciscus setzen auf soziale Gründe bzw. durch sie beeinflusste Hormone und Neurotransmitter. Wir „modernen Menschen“ – so nennen uns die Anthropologen – wurden in zwei Schüben modern, vor etwa 180.000 Jahren wurden zunächst die Körper graziler, dann geschah lang nichts, erst vor etwa 70.000 Jahren verfeinerte sich der Geist, viele Erfindungen zeugen davon, etwa Jagdtechniken, auch bei nicht technischer Kultur, aus vielen Materialien wurde Schmuck gefertigt.

Und etwas früher, vor etwa 80.000 Jahren, verweiblichten die Gesichter unserer Ahnen, Franciscus hat es im Vorjahr gezeigt: Die massigen Augenwülste wichen, die Gesichter wurden kürzer und breiter (Current Anthropology 55, S.419). Dahinter könnten der Neurotransmitter Serotonin und vor allem das männliche Sexualhormon Testosteron stehen. Beide haben Einfluss auf das Knochenwachstum, und das Sozialverhalten, nicht nur bei uns: Die aggressiven Schimpansen haben viel Testosteron, ihre friedlichen Brüder, die Bonobos, wenig. Und im Zug der Domestizierung von Tieren sinken die Gehalte auch.

So war es für Franciscus und Holton auch, als der Mensch sich selbst domestizierte: Vor etwa 80.000 Jahren waren die Populationen so zahlreich geworden, dass sich eher friedlicher Umgang empfahl. Der brachte die neue Gesichtsform, und in die passte aus offenbar rein geometrischen Gründen das vorspringende Kinn (Journal of Anatomy 13.4.). „Das Kinn hat mit der räumlichen Dynamik der Entwicklung des Gesichts zu tun“, schließt Holton.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2015)

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