Ein Gas, das heiß und kalt zugleich ist

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Physik. Forscher aus Wien und Heidelberg erzeugen einen exotischen Materiezustand, der bisher noch nie beobachtet wurde. Zu seiner Beschreibung braucht es ein Modell, das nicht eine, sondern mehrere Temperaturen enthält.

Was wir als Wärme wahrnehmen, ist in Wirklichkeit nichts anderes als Bewegung, genauer gesagt: ungeordnete Bewegung von Atomen und Molekülen. Diese These war lange Zeit umstritten, besonders in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Während Ludwig Boltzmann die Atomhypothese ganz selbstverständlich akzeptierte und zu dem Thema bahnbrechende Arbeiten publizierte, leugneten andere, etwa der kaum minder bedeutende Ernst Mach, dass es überhaupt Atome gab. Boltzmann entschied diesen Kampf der Giganten für sich, leider erst posthum: Er nahm sich im Alter von 62 Jahren das Leben.

Was man noch nicht wissen konnte: Es ist wenig mehr als ein glücklicher Zufall, dass die Erklärung der Wärmelehre als Bewegung von Teilchen so gut funktioniert. Damals gab es die Quantenphysik noch nicht, die uns sagt, dass es keinen Sinn hat, sich Atome als winzige Billardkugeln vorzustellen. Doch bei Zimmertemperatur funktioniert die „alte“ Physik gerade noch gut genug, um uns ein der Intuition sehr gut zugängliches Bild zu liefern. Sobald man genauer hinsieht, wird es überraschend kompliziert. Wie die quantenmechanische Beschreibung vieler Teilchen und die statistische Physik Boltzmanns zusammenhängen, ist bis heute nicht ganz geklärt und Gegenstand aktueller Forschung.

Eine Gruppe von Physikern am Atominstitut der TU Wien und der Uni Heidelberg um Jörg Schmiedmayer und Thomas Gasenzer ist es nun gelungen, ein stark gekühltes Gas sehr genau zu vermessen und dabei einen neuen Materiezustand zu beobachten, der nicht durch einen, sondern mehrere Temperaturwerte beschrieben wird. Die Ergebnisse wurden im renommierten Magazin Science publiziert.

Falle für das Gas

Ausgangspunkt war ein Gas aus einigen tausend Rubidiumatomen, das die Physiker unter der Leitung von Tim Langen an der TU Wien auf einem Mikrochip einfangen konnten und bis fast an den absoluten Nullpunkt von minus 273 Grad Celsius kühlten. Langen erklärt die Besonderheit dieser „Falle“ für das Gas: „Die Atome können sich nur entlang einer Linie bewegen. In den anderen beiden Raumdimensionen legen wir so starke Kräfte ein, dass es dort keine Dynamik mehr gibt.“

Damit erreichen die Forscher, dass sich das Gas so verhält, als gäbe es nur eine einzige Raumdimension. „Dieses Szenario können wir mit dem Mikrochip sehr gut kontrollieren und untersuchen. Außerdem gibt es dafür gute Berechnungsmethoden aus der Festkörperphysik, so dass wir genau verstehen können, was in dem Gas vor sich geht.“

Es gelang den Forschern, das Gas in einen Zustand zu bringen, der nicht mehr durch die bekannte statistische Physik beschrieben werden kann, sondern durch ein verallgemeinertes Modell, in dem das Gas mehrere Temperaturen zugleich haben kann. Vermutet wurde dieses Verhalten bereits, beobachtet hat man den Effekt aber noch nie. Mit dieser Erkenntnis können nun auch viele andere Quantensysteme ähnlich wie bei Boltzmann statistisch beschrieben und so besser verstanden werden.

„Im Prinzip handelt es sich um Mathematik, im Experiment gesehen. Die Forscher, die das in den Sechzigern theoretisch entwickelt haben, waren erstaunt, als wir ihnen zeigten, dass man so etwas experimentell erzeugen kann“, so Langen.

LEXIKON

Statistische Physik. Die Physik vieler Teilchen (oder anderer Teilsysteme), wobei es nicht mehr möglich oder zielführend ist, das Verhalten der einzelnen Teile zu beschreiben, sondern nur noch das Kollektiv. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Wärmelehre vollständig auf die statistische Physik zurückgeführt, maßgeblich durch die Arbeit des Wieners Ludwig Boltzmann. Ihre Verbindung mit der Quantentheorie ist nicht trivial und aktuell Gegenstand von Forschungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2015)

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