Woher Tibet & die Tibeter?

Tibetan women plow a highland barley field in Doilungdeqen county
Tibetan women plow a highland barley field in Doilungdeqen countyREUTERS
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Wie das Dach der Welt hochgezogen wurde, ist wissenschaftlich umstritten. Wo seine heutigen Bewohner herkamen, ist es auch, aus politischen Gründen.

Vor 4000 Jahren brach das Grauen herein über Lajia, ein Dorf in 1800 Metern Höhe in Tibet, man sieht es den Skeletten heute noch an. Da hat eine Mutter ihr Kind schützend an die Brust gerissen und starrt entsetzt zum Himmel, daneben liegt ein Mann, dem es alle Knochen zerschlagen hat. Lajia lag am Gelben Fluss, der wurde plötzlich zum Strom aus Schlamm – ausgelöst durch ein Erdbeben –, der konservierte die Opfer, das Dorf gilt als „Pompeji des Ostens“. In Frieden ruhen dürfen auch seine Bewohner nicht, nicht aus touristischen Gründen wie in Pompeji, sondern aus politischen: Ihre Gerätschaften erinnern an die der Yangsha, der Ahnen der Chinesen. Und deren heutigen Herren liegt viel daran, dass das – 1951 besetzte – Tibet immer schon zu China gehörte.

„Die chinesische Regierung will unbedingt zeigen, dass Tibeter und Han-Chinesen tonggen tongyuan sind – aus den gleichen Wurzeln und der gleichen Quelle –, um ihre Herrschaft über Tibet zu rechtfertigen.“ Das erklärt ein chinesischer Archäologe in Science, er tut es anonym, die Frage ist heikel (347, S.708). Sie ist auch nicht geklärt, wie so vieles auf dem Dach der Welt, das mit 2,5 Millionen Quadratkilometern in durchschnittlich 5000 Metern Höhe das größte aller Gebirgsplateaus ist. Wann und wie wurde der Dachstuhl errichtet? Vor 50 Millionen Jahren fuhr die Indische Platte in die Eurasische und schob alles hinauf, bis auf 7000 Meter, weite Regionen sind von kilometertiefen Schluchten zerfurcht, andernorts bieten muldenweiche Hochtäler ein so idyllische Bild, dass manche dort den Himmel auf Erden vermuteten.

Wie geriet alles hinauf, seit wann hat es seine heutige Gestalt? Einer, der von Letzterem erzählen kann, ist der Monsun: Er kam erst durch das Plateau, das steuert warme Winde in die Höhe, sie bilden Hochs, die ziehen Tiefs des Pazifik zu sich. Was dann mit den Flüssen aus den Bergen in die Meere getragen wird, findet sich in Sedimenten, die kann man datieren. Aber sie sprechen mit vielen Stimmen, die Spanne für die Geburt des Monsuns reicht von 22 Millionen Jahren bis 2,6.

Auf nicht einmal 10.000 Jahre deuten hingegen fossile Blätter hin, deren Form und Stomata Auskunft über die Höhe geben, auf denen die Pflanzen wuchsen. Aber bei der Rechnung hatte man den Klimawandel vergessen, auch den, den das Plateau selbst brachte, es kühlte, global, sein erodierendes Gestein holte viel CO2 aus der Luft, auf bis zu sechs Grad beziffert man den Effekt.


Shangri-La. Und wie kam alles hinauf, wie entstanden etwa die Himmel auf Erden bzw. ihr Protoyp Shangri-La? Das ist in buddhistischen Legenden ein Idyll des Friedens und der Weisheit, der Schriftsteller James Hilton griff es 1933 im Roman „Lost Horizon“ auf und imaginierte einen Ort mit allen Segnungen der Kultur und ohne ihre Laster. Sogar Himmler fühlte sich angezogen und schickte Expeditionen auf die Suche nach den Ur-Ariern, so kam Heinrich Harrer nach Tibet.

Gefunden haben sie nichts, außer den Hochtälern selbst. Viele Geologen halten sie für „Reliktlandschaften“, die schon unten am Meer so sanft waren und ohne jede Veränderung gehoben wurden. Aber Sean Willett (ETH Zürich) kam in Computersimulationen zu einer konkurrierenden Lösung: Beim Heben des Plateaus schnitten sich viele Flüsse tief ein, anderen wurde der Weg abgeschnitten, sie blieben oben und wurden zahm, die Landschaft um sie herum wurde es auch, es gab kaum Erosion, und die, die es doch gab, füllte die Talböden auf (Nature 520, S.526).

Wie auch immer. Vor 40.000 Jahren erwanderten die Menschen Asien, bald waren sie auch in den Tälern unten am Plateau. Dann stiegen sie hinauf, aus allen Richtungen, vom Norden her, von China, vom Süden her, von Indien, und vom Westen her, aus dem Altai. Von dort brachten sie etwas mit, was ihnen das Vordringen in immer größere Höhen ermöglichte: Die meisten Tibeter leben heute auf über 3500 Metern, aber schon auf 2500 ist die Luft so dünn, dass 40 Prozent weniger Sauerstoff da ist als unten am Meer. Wer von dort kommt, kann oben nicht lang leben, er muss sich anpassen, dabei half ein Gen lang vergessener Brüder aus den Höhen des Altai: Dort lebte vor 30.000 Jahren der Denissova-Mensch, geblieben von ihm ist nichts als ein fossiler Finger und darin das Genom, einige Gene kamen auf die Menschheit, darunter eine Variante von EPAS1. Das ist für die Reaktion auf Sauerstoffmangel zuständig. Es lässt bei Bedarf die Zahl der roten Blutzellen – Erythrozyten, sie transportieren Sauerstoff – steigen.

Dieses Gen half Menschen ein anderes Gebirge hinauf – die Anden –, auch die Han-Chinesen, die seit der Besetzung nach Tibet kamen, erhöhten die EPAS1-Aktivität: die Erythrozytenzahl. Aber das ist riskant: Erythrozyten verklumpen leicht, dann droht Herztod. Deshalb haben die Tibeter eine Gegenstrategie eingeschlagen: Sie haben die Kraft der Lungen erhöht – holen bei einem Atemzug 15 Liter –, im Gegenzug wurde die Zahl der Erythrozyten gesenkt, mit der EPAS1-Variante der Denissova-Menschen. Die wurde in die Ahnen der Tibeter eingekreuzt, als sie vom Westen kamen (Nature 512, S.194).

Von dort kam auch, was ihnen vor spätestens 3600 Jahren endlich das dauernde Leben in der Höhe ermöglichte, zunächst waren sie nur temporär oben, zum Jagen. Unten in den Tälern pflanzten sie Hirse an, die kam aus China, war aber dem Klima des Plateaus nicht gewachsen, schon gar nicht vor 3600 Jahren, ein Klimawandel brachte noch mehr Kälte. Da halfen Weizen und Gerste, sie halten mehr Frost aus (Science 347, S.248). Aber sie mussten erst einmal nach Tibet, domestiziert wurden sie vor 11.000 Jahren in Anatolien.

Offenbar wurden schon früh Handelswege aufgebaut – Vorläufer der Seidenstraße –, die China vor 5000 Jahren mit dem Nahen Osten verbanden. Das bezeugen archäologische Funde, Mark Aldenderfer (University of California) hat viele ausgewertet: „Tibet war über Jahrtausende ein Magnet für Menschen aus vielen Richtungen, es war ein Schmelztiegel, ein überraschend kosmopolitischer Platz der Prähistorie.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2015)

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