Kinder suchen Helden noch im Fernsehen

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Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink beobachtet mit ihrem Team Kinder aus sozial benachteiligten Familien bei ihrem Medienkonsum. Auch für die Eltern braucht es Unterstützung in der Medienerziehung.

Als Ingrid Paus-Hasebrink vor zehn Jahren mit ihrer Studie zur Mediennutzung von sozial benachteiligten Kindern begann, war gerade die große Zeit von Hermann Maier, das Internet steckte in den Kinderschuhen, und die meisten Österreicher hatten noch einen Festnetzanschluss, um zu telefonieren. „Der Fernseher war für die Teilnehmer unserer Studie das wichtigste Medium“, berichtet die Kommunikationswissenschaftlerin über die Ergebnisse der ersten Untersuchungswelle. Seit dem Jahr 2005 nimmt Paus-Hasebrink mit ihrem Team in regelmäßigen Abständen die Mediennutzung von Kindern aus 20 sozial benachteiligten Familien unter die Lupe. Es ist die bisher längste Studie dieser Art.

Zentrales Ergebnis: Sozial benachteiligte Kinder sind bei ihrem Medienkonsum weitgehend sich selbst überlassen. Medienerziehung ist in Familien, die arm oder armutsgefährdet sind, nicht oder nur marginal ein Thema. Den Eltern fehlen dafür Zeit und Energie, oft sind sie auch technisch überfordert. Dieses Manko an Führung durch die Fülle an medialen Angeboten zieht sich wie ein roter Faden durch die bisherigen Befragungen.

Die bei der ersten Untersuchungswelle Fünfjährigen sind mittlerweile zu Jugendlichen herangewachsen. In ihren Familien haben sich die Probleme mit geringer Bildung, Armut, Arbeitslosigkeit und Beziehungsschwierigkeiten zum Teil verstärkt, zum Teil aber auch entspannt. Einigen ist – beispielsweise durch einen Jobwechsel oder Veränderungen in der Partnerschaft – ein sozialer Aufstieg geglückt.

Wie ein magischer Würfel

All das hat auch Auswirkungen auf die Mediennutzung. „Es ist wie bei einem magischen Würfel. Wenn man an einem Steinchen dreht, dann verändern sich auch alle anderen“, bringt Paus-Hasebrink die Komplexität der Zusammenhänge auf den Punkt. Deshalb wehrt sich die Wissenschaftlerin auch dagegen, die Ergebnisse ihrer Langzeituntersuchung zu pauschalieren.

Trotz aller Individualität lassen sich aber auch einige gemeinsame Linien herausarbeiten. Medien wie das Fernsehen, zunehmend aber auch das Internet werden in sozial benachteiligten Familien intensiv und zeitlich recht ausgedehnt genutzt. Auch wenn das Geld in vielen dieser Familien knapp ist, mangelt es nicht an technischer Ausstattung. Fernseher, Laptop, Computerspiele oder Smartphones sind vorhanden, oft sind es aber etwas ältere Geräte oder weniger teure Marken, die verwendet werden.

In der ersten Untersuchungswelle konnte das Team um Paus-Hasebrink beobachten, dass die Kinder sehr viel Zeit vor dem Fernseher verbrachten. Gesehen wurden dabei nicht nur typische Kinderserien, sondern auch viele Programme, die eigentlich für ältere Kinder oder Erwachsene gedacht waren. Für die Kinder sind die Medien oft Gegenwelten zum Alltag in der Familie. Sie suchen sich Helden, mit denen sie sich identifizieren können. Kämpfer, Erfolgstypen, Superhelden oder Prinzessinnen.

Beeindruckt hat Paus-Hasebrink ein Mädchen, das für den Skistar Hermann Maier schwärmte und keine Sendung mit ihm versäumen wollte. Für das Mädchen verkörperte Maier Stärke und Erfolg – das Gegenteil von dem, was sie im Elternhaus erlebte. Außergewöhnlich ist auch, dass sie sich als Mädchen ein männliches Vorbild gewählt hatte.

Internet immer wichtiger

Der Fernseher ist in vielen der beobachteten Familien auch heute noch das Hauptmedium. Konsumiert werden hauptsächlich die Programme von privaten Anbietern. Doch das Internet gewinnt rasant an Bedeutung. „Oft sind die Kinder bei der Nutzung der Angebote im Internet ihren technisch weniger versierten Eltern weit überlegen“, beobachtet Paus-Hasebrink. Je älter die Kinder werden, desto häufiger geben die Eltern auch die Verantwortung für den Medienkonsum ab, sie setzen stark auf Selbsterziehung der Kinder.

Smartphones haben erstmals in der Befragungswelle 2014 eine Rolle im Medienkonsum gespielt. Die Finanzierung der Langzeitstudie wurde kürzlich um weitere drei Jahre verlängert. Auch andere Länder haben mittlerweile in Salzburg angeklopft, um das Studiendesign übertragen zu können.

Was macht nun den Unterschied zwischen einem Kind aus einer begüterten Familie und einem aus einer sozial benachteiligten Familie, wenn beide tagelang vor dem Fernseher sitzen oder im Internet surfen? „Unsere Kinder sind noch viel verletzlicher, weil sie auch materiell und sozial schlechter gestellt sind“, so die Wissenschaftlerin. Sie suchen noch stärker nach Kompensationsmöglichkeiten und Orientierungsvorlagen in den Medien. Gerade des Internet berge deshalb auch viele Chancen, die Startbedingungen von armutsgefährdeten Kindern zu verbessern.

Um diese Chancen nutzen zu können, müssten die Eltern in ihrer Medienerziehung unterstützt werden. Ein Folder reiche dabei nicht, ist Paus-Hasebrink überzeugt. Möglichst viele Stellen – vom Kindergarten über Schule bis hin zu Jugendämtern – sollten sich des Themas annehmen. Je besser die Medienkompetenz der jungen Menschen und je stärker ihre Persönlichkeit, desto besser sind sie gegen Gefahren, die mit dem Internet einhergehen, gerüstet.

BUCHTIPP

Die bisherigen Ergebnisse

der Langzeituntersuchung über die Mediennutzung sozial benachteiligter Kinder sind in einem Buch veröffentlicht worden: Ingrid Paus-Hasebrink, Jasmin Kulterer (unter Mitarbeit von Philip Sinner), „Praxeologische Mediensozialisationsforschung“. Nomos Verlag, 416 Seiten, 64 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2015)

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