Altes Häutungstier: Hallucigenia hatte Zähne im Rachen

Handout photo of a Hallucigenia sparsa
Handout photo of a Hallucigenia sparsa (c) REUTERS
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Paläontologie. Ein skurriles Fossil aus der kambrischen Explosion wurde neu untersucht: Es hat ein – auch für Systematiker – interessantes Gesicht.

War es eine rasche Zunahme des Sauerstoffgehalts im Meer? Die Entstehung der Hox-Gene, die seither höhere Lebewesen strukturieren? Der Beginn des Fressens und Gefressenwerdens? Oder all das zusammen? Was die kambrische Explosion auslöste, ist umstritten, fest steht: Sie ist passiert. Vor ca. 540 Millionen Jahren, zu Beginn des Erdzeitalters Kambrium, entwickelten sich in – relativ – kurzer Zeit die meisten Tierstämme, die es heute noch gibt. Und das in oft abenteuerlichen Formen.

Der Abdruck des wohl wildesten Wesens dieser Revolution wurde – wie der vieler seiner Kollegen – 1911 in einer berühmten Fossillagerstätte in den kanadischen Rocky Mountains (Burgess Shale) erstmals gefunden. 1977 fertigte der Paläontologe Simon Conway Morris eine Skizze an – und zeigte sie einem Kollegen, „der prompt laut loslachte“, so Morris: „Doch ich war nicht im Mindesten beleidigt, denn ich dachte selbst, dass es befremdlich aussieht.“ Wobei Morris in seiner Rekonstruktion ein Fehler passierte: Er zeichnete Hallucigenia – diesen psychedelischen Gattungsnamen gab er dem ein bis drei Zentimeter langen Tierchen – verkehrt herum, interpretierte das, was wir heute als Stacheln sehen, als Beine. Das erinnerte musische Zoologen an ein Bild von Salvador Dalí („Die Versuchung des heiligen Antonius“, mit Elefanten auf Stelzen), und Stephen Jay Gould, der große Freund der kambrischen Revolution (in der er einen Beleg für die Ziellosigkeit der Evolution sah), fantasierte über eine Welt, die von Nachkommen von Hallucigenia bevölkert ist. Tatsächlich sei dieses Tier mit keiner heutigen Art verwandt, meinte er.

Etwas ernüchternd wirkte 1991 die Entdeckung einer zweiten Art von Hallucigenia in China – mit Spuren einer zweiten Reihe von Tentakeln. Die Entdecker drehten es um und ordneten es in den Stamm der Stummelfüßer ein, das sind nicht sonderlich populäre Tiere, die man heute mit den Gliederfüßern (Insekten, Krebse, Spinnen etc.) zu den Panarthropoda zählt, die wiederum mit den Fadenwürmern u.a. in den Überstamm der Häutungstiere gestellt werden.

Über deren Ursprünge könne man aus Hallucigenia einiges lernen, meinen Martin Smith und Jean-Bernard Caron, die dessen Anatomie neu untersucht haben (Nature, 24.6.). Sie beschreiben einen verlängerten Kopf mit zwei Augen, Lamellen rund um das Maul und sogar Zähnen im Rachen. Die beiden letzteren Strukturen haben heutige Stummelfüßer nicht, offenbar seien sie wieder verloren gegangen, meinen die Forscher. Eine solche Rückentwicklung zu (scheinbar) primitiveren Körperformen ist gar nicht selten in der Evolution, die durchaus nicht immer fortschrittlich – im Sinn einer Entwicklung zu komplexeren Strukturen – ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2015)

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